„Gutenbergs neue Galaxis“ für Eilige: als E-Book und als TLDR-Book

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Die Neuauflage von „Gutenbergs neue Galaxis“ ist raus.

Einigen wird es zu lang sein. Daher nachfolgend die Kurzversion für Eilige, sozusagen als TLDR-Book: „Too Long, Didn’t Read“. E-Books sind sozusagen die Hardcover-Ausgabe, TLDR-Books die Taschenbuchausgabe.

Neu in der E-Book-Neuauflage: Ich habe das Cover neu fotografiert, den Text erweitert um das Thema Urheberrecht und Digital Public Library of America. Außerdem habe ich ein paar Farbfotos von meinen Recherchen eingefügt, sowie viele neue Links. Ein paar kleine Bugs habe ich entfernt und den Text insgesamt aktualisiert. Nachfolgend ein paar Stimmen (zur ersten Auflage) und danach eine Auswahl von „Hightlight“-Passagen aus der Kindle-Edition.

Ansgar Warner von e-book-news über „Gutenbergs Neue Galaxis“:

„Schmundts Sampler ist ein eloquentes Plädoyer, endlich einmal die Chancen der neuen E-Lesewelt wahrzunehmen: “Wie wäre es , wenn Gutenbergs Heimatland, statt erbitterte Debatten um das Urheberrecht zu führen, ein Zukunftslabor betreiben würde: Autoren, Verleger, Medienforscher, die Expeditionen in die neuen Spiralarme der Gutenberg-Galaxis unternehmen?” Ja, wie wäre das? Gut wäre das! Einen äußerst lesenswerten Expeditionsbericht hat Schmundts mit seinem E-Book jetzt schon mal selbst vorgelegt. Und zugleich ein konkretes Angebot gemacht: unter dem Hashtag #AllesWirdGutenberg lädt er die Leser zur Diskussion ein.“

„Vielfältige Oberflächlichkeit erzeugt neue Perspektive“, schreibt Tobias Auth:

„Die etwa 60-seitige Zusammenstellung besteht aus 27 kurzen Artikel, die in sich geschlossen und kaum miteinander verknüpft sind. Für mich liest sich das wie die Rohfassung eines Buches, in dem die einzelnen Teile noch nicht zu einem Gesamtwerk zusammengeschrieben worden sind. Und das ist keinesfalls negativ: Die übliche Tiefe eines Buches wird durch eine vielfältige Oberflächlichkeit ersetzt. Eine völlig neue Perspektive entsteht.“ 

Sven Rohweder schreibt in seiner Rezension:

„Es ist wirklich eine Plauderei in kurzen Episoden zu jeweils einem Aspekt des elektronischen lesens. Das liest sich sehr gut, jeweils nicht zu lang und der Ton ist wirklich wie eine Plauderei. Das Buch ist durchsetzt mit Links, praktisch jedes Zitat und referenzierte Person oder Studie ist verlinkt. Das ist schon grundsätzlich sehr lobenswert, hier aber umso mehr da es die einzelnen betrachteten Aspekte unterstützt.

Das kommt sicher auch davon dass Autor steht eBooks positiv gegenüber steht und dessen Eigenschaften kennt und nutzt. Er kennt und nennt aber auch die Argumente dagegen und geht darauf ein.“

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Gutenbergs neue Galaxis – Vom Glück des digitalen Lesens: Ein SPIEGEL E-Book (German Edition)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Geschenkt: Lust und Last der E-Books

Wider die Zellulose-Nostalgie

Rückblende: Sind E-Book-Pioniere Technikeuphoriker?

Das Rocketbook stürzt ab

Niedergang des Lesens oder Goldenes Zeitalter?

Können Autoren E-Books signieren?

Würde Gutenberg heute E-Books machen?

Das Papier-Internet anno 1912: Sind wir Innovationen ausgeliefert?

Die globale Stadtteilbibliothek: Wäre Diderot heute Online-Verleger?

Ich bin mein eigener Verlag: Was passiert, wenn Autoren zu Unternehmern werden?

Ein Pulitzer für den Robo-Autor: Können Maschinen Artikel schreiben?

Atavistisches Lesevergnügen: Brauchen lange Texte herkömmliche Verlage?

Mekkas der Moderne: Wie schreibt es sich in Gutenbergs neuer Galaxis?

Propublica: Rundfunkbeitrag für Nonprofit-Verlage?

Rap Genius: Können nur Papierbücher uns aus der Filterblase befreien?

Lesen im Schwarm: Social Reading als Fortsetzung des Salons?

Nicht angeborene Leseschwäche: Schützt Kopierschutz vor Piraterie?

Erst Handy, dann Hardcover: Können E-Books den Papierbuchmarkt beleben?

Bedeuten E-Books den Verlust des Bücherregals als Monument der eigenen Belesenheit?

Gibt es Fernleihe auch für elektronische Bücher?

Werden Bibliotheken überflüssig durch E-Books?

Sind E-Books unmoralisch?

Evidenzbasiertes Urheberrecht: Schaden Tauschbörsen und Flatrates den Urhebern?

Wo liegt der Ausweg aus den vergifteten Urheberrechts-Debatten?

Guillotinierung und Wiedergeburt: Wie kann ich alte Papierbücher digitalisieren?

Eigentümliches Eigentum: Wem gehören E-Books eigentlich?

Bücher zu Buchen: Ist Buchentsorgung ein Sakrileg?

Epilog: Mit Google zur Verlobung

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Am Abend vor dem Abflug nahm ich einen Teppichschneider, um den „Zauberberg“ zu zerteilen. Den ersten Teil, bis Seite 256, hatte ich schon gelesen. Auf die Reise nahm ich nur den Rest von Thomas Manns Roman mit, schließlich wollte ich mit dem Fahrrad quer durch Kuba fahren. Der halbe „Zauberberg“ war immer noch schwer genug, das zerteilte Buch wog fast ein Pfund.

Wie viele Bücher passen in einen Rucksack, neben Zelt, Kocher, Regenkleidung? Drei, vier, fünf vielleicht? Schon als Jugendlicher packte ich vor jeder Wandertour ein paar Bände ein. Ich liebte Bücher. Bücher aus Papier, andere gab es nicht. Noch immer quellen die Regale in meiner Wohnung über vor Büchern. Aber irgendwann tat mir beim Wandern der Rücken weh, weil mein Rucksack zu schwer war. Ich träumte davon, meine Bibliothek in der Hosentasche mit mir herumtragen zu können.

Die Fahrradtour nach Kuba ist zwölf Jahre her. Inzwischen muss ich vor einer Reise nicht einmal mehr überlegen, welches Buch ich unterwegs lesen will. Ich kann mich immer noch entscheiden, wenn ich schon im Zug bin, sogar noch auf der Berghütte. Solange mein Handy dort eine Internet-Verbindung bekommt, mit der ich die Bücher herunterladen kann. Beim Joggen höre ich Hörbücher.

Früher reisten die Bücher in meinem Rucksack, heute reise ich, egal ob ich in den Bergen bin oder am Strand, wie durch eine riesige Bibliothek. Alles ist da, fast jedes Buch, auf das ich gerade Lust habe. Es ist großartig.

Wie verändert die elektronische Medienumwelt das Denken, das fragte der kanadische Philosoph Marshall McLuhan in seinem Buch „Die Gutenberg-Galaxis“ vor über fünfzig Jahren. Für ihn brach mit den elektronischen Medien eine neue Ära an, eine Kultur jenseits der Schrift. McLuhan glaubte, dass wir bald nicht mehr lesen würden. Die Schrift ist nicht verschwunden, wir leben geradezu in einem goldenen Zeitalter des Lesens. Wir haben die Gutenberg-Galaxie nicht verlassen, sondern wir erkunden einen neuen Spiralarm dieser Galaxie. Von dieser Welt handelt diese Geschichte, ein elektronisches Buch über elektronische Bücher.

Im folgenden nenne ich sie E-Books, denn der englische Begriff ist der geläufigste (als seien elektronische Bücher etwas Fremdes, für das man kein deutsches Wort braucht).

Dies Buch ist ein Selbstversuch, ein Bericht über meinen Umstieg von gedruckten Buchstaben zu solchen, die nur aus Pixeln bestehen, eine Plauderei mit Leserbriefschreibern, eine Linksammlung für die E-Book-Welt, ein Remix von Artikeln, die im SPIEGEL erschienen sind. Es ist auch ein Bericht von Orten, an denen eine neue Buchkultur jenseits des Papiers entsteht, mit Zwischenstopps

in einer zunehmend buchfreien Bibliothek in Lausanne, wo ein Tisch entwickelt wird, der einmal Gespräche moderieren soll;

bei einem digitalen Lesezirkel in Brooklyn und im Netz;

bei einem Bibliothekar, der zur Kaiserzeit so etwas wie ein Papier-Internet erfand;

bei Buch-Hackern in Berlin, die das geschriebene Wort als Rohstoff für „Social Reading“ sehen;

bei Pionieren in Hamburg, die Spielkonsolentechnik zum Schreibwerkzeug für Gebärdensprache umbasteln;

in einem Buchenhain am Rande von Berlin, wo Papierbücher beerdigt werden.

Die Reise endet in der Vergangenheit: bei der Verlobung meiner Eltern, die sich einem Novalis-Märchen verdankt, das ich immer bei mir trage.

Meine Erkundungen sind eine Spurensuche, ein Versuchsaufbau, der einige geläufige Thesen auf den Prüfstand stellt: Sind E-Books weniger sinnlich als Papierbücher? Bedeutet das elektronische Lesen eine größere Oberflächlichkeit – oder vielleicht teils eine größere Tiefe? Sind elektronische Werke, weil sie den Buchhandel untergraben, moralisch verwerflich? Lassen sie sich verschenken und signieren? Gilt für E-Books auch die Fernleihe? Schützt Kopierschutz vor Piraterie? Sind E-Books unmoralisch?

Dahinter steht die Grundsatzfrage: Lassen wir uns treiben von der technischen Entwicklung – oder gestalten wir sie mit?

Dieses E-Book basiert auf meinen persönlichen Erfahrungen. Wie lesen Sie? Wie wollen Sie lesen? Lassen Sie uns weiter darüber reden. Vielleicht auf Twitter unter #alleswirdgutenberg. Mein Name dort ist @hilmarschmundt.

Ich freue mich auf die Fortsetzung dieses Gesprächs.   Read more at location 68   • Delete this highlight

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Wider die Zellulose-Nostalgie

Geschmacksache, diese E-Books, dachte ich, als ich 2012 dazu einen Artikel im SPIEGEL schrieb. Meine Wortmeldung regte einige Leser auf, wie ihre Briefe zeigten, einige teilten meinen Geschmack, andere waren empört.

„E-Books sind Büchern wirklich in den Details überlegen, die der Autor hier schildert“, schrieb etwa Bernhard Taschner aus Frankfurt am Main: „Wie viele Meter umbauten Raums gehen durch einmal oder gar nicht gelesene Exemplare verloren?“ Das ist die pragmatische Sicht.

Andere Zuschriften verströmten poetische Schwermut, wie diese von Andreas Groell-Döhring aus Euskirchen:

„Ihr Artikel trägt die ganze Traurigkeit unserer ach so großartigen neuen elektronischen Welt in sich. Sie scheinen nie das Vergnügen verspürt zu haben, ein antiquarisches Buch in der Hand zu halten, das phantastisch illustriert, großartig gebunden und durch zig Hände gegangen ist. Nie scheinen Sie als Kind darüber nachgedacht zu haben, wer dieses Buch wohl schon vor Ihnen in Besitz hatte und wo es womöglich schon gewesen ist. Nie scheinen Sie Sand zwischen den Seiten gefunden zu haben, nie scheinen Sie Stockflecken irischen Whiskeys zwischen den Seiten einer Erstausgabe von Dylan Thomas gesehen zu haben, nie scheint Ihr Vater Ihnen ein Buch aus seinem Bestand geschenkt zu haben mit dem Hinweis, dass es einst in einer Bombennacht Schutz und Trost gespendet hat. Wie gesagt, Sie tun mir wirklich leid.“

Geschichtsbewusstsein, Hochkultur, Familienwerte. All das scheint für manche Bücherfreunde untrennbar mit dem bedruckten Papier verbunden zu sein.

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Die erhitzten Debatten um den Wert des Papiers haben etwas von Glaubenskrieg, sie atmen den Geist einer jahrtausendealten Buchreligion. Wie ist das zu erklären?

Als Johannes Gutenberg im großen Stil zu drucken begann, natürlich Bibeln, wurde das strahlend weiße Papier aus alten Textilfetzen gewonnen. Die Veredelung von Lumpen in heilige Bücher faszinierte viele Zeitgenossen. Der Produktionsvorgang wurde „mit der Wiederauferstehung verderbter Natur verknüpft“, schreibt der Literaturkritiker Lothar Müller in seinem gelehrten Sachbuch „Weiße Magie – die Epoche des Papiers“. (Leider immer noch nicht als E-Book erhältlich, aber hier zum Trost zumindest schon digitalisiert.) Müller zitiert eine alte Abhandlung aus dem Jahr 1698, welche das Papier zum Sinnbild moralischer Läuterung überhöht:

„Der alte Lumpe kommt durch Fleiß

Zu neuen Nutzen schön und weiß;

Solst Du mein Hertz verächtlich bleiben?

Hervor aus altem Sünden-Stand

Ganß neu und rein, daß Gottes Hand

Auff dich mög seinen Willen schreiben.“

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Bücher sind ein besonderes Gut, oft wird ihnen viel Ehrfurcht entgegengebracht. Die Buchpreisbindung soll sie davor bewahren, im Sonderangebot zu landen, die Mehrwertsteuer ist von 19 auf sieben Prozent reduziert. Allerdings gilt das nur für Bücher auf Papier. Als hinge der kulturelle Wert eines Romans von seiner Druckunterlage ab.

Vielleicht ist das ein fiskalisches Echo der alten Papierverehrung: „Ganß neu und rein, daß Gottes Hand Auff dich mög seinen Willen schreiben.“

Die lautstarke Bevorzugung gedruckter Bücher kommt gerne als Verteidigung immaterieller Werte, doch einige Argumente klingen in meinen Ohren oft eigenartig materialistisch. Papier als Fetisch.

Bisweilen treibt die Buchreligion seltsame Blüten. „Jugendgefährdende E-Books fallen unter die Telemedien und dürfen nur zwischen 22 und 6 Uhr angeboten werden“, titelte der seriöse Buchreport im Juni 2015. Die schmuddelbereiche in E-Book-Stores müssen tagsüber ihre Rolläden herunterlassen, damit Minderjährige sie nicht zu Gesicht bekommen? Diese Meldung war eine Ente. Aber sie zeigt, wie verunsichert selbst Fachleute sind durch die in Gesetze gegossene Buchverehrung, die Papiertexte systematisch bevorzugt.

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Bei mir zuhause war die Netzverbindung so langsam, dass ich beim „Surfen“ immer ein Buch neben dem Rechner liegen hatte, um die Wartezeit zu überbrücken, bis sich eine karge Textseite stockend aufbaute. Beim Einwählen ins Netz zirpte das Modem-Gerät am Telefonstecker eine eigenwillige, kratzige Melodie: das Singen der Daten.

Auch Michael Joyce, durch dessen „Afternoon“ ich mich in den USA geklickt hatte, trat bei der Softmoderne auf. Er war zu meiner Überraschung kein aufgedrehter Euphoriker, sondern ein vollbärtiger Professor mit großen, traurigen Augen und leiser Stimme. „Granddaddy of Hypertext Fiction“ nannten ihn die Leute anerkennend, nicht wegen seines Alters, sondern wegen seiner Pionierleistungen. Joyce wies immer wieder darauf hin, dass die kommende Flut der Textangebote auch einen Verlust bedeuten würde: „The Link severs as much as it links“, sagte er. Links mögen Dinge verbinden – aber sie kappen auch.

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Peter Glaser freute sich über die neuen Lesegeräte, und wünschte sie sich gleichzeitig weg:

„Mein einziger Wunsch an die Technik von morgen ist: die Hardware soll verschwinden, die Funktionen bleiben. Es gibt eine Diskrepanz zwischen der Leichtigkeit der Sprache und der Wuchtigkeit des Computerequipments. Wie spaltbares Material hinter einer Sicherheitsscheibe liegt der elektronische Text im Kathodenvakuum der Bildröhre, auf dem gläsernen Blatt. Der Autor, seit jeher hart am Rand des Stofflichen tätig, rückt mit dem Schreiben am Computer seiner Bestimmung näher. Meine Tinte ist das Licht.“

Das Rocketbook verschwand bald wieder, die Herstellerfirma wurde von einem Elektronikkonzern gekauft, der sein Geld vor allem mit Videorecordern verdient hatte. Der neue Chef nörgelte über den gescheiterten E-Book-Vorstoß: „Ich verkaufe weniger Bücher als der kleine Buchladen an der Ecke.“

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Würde Gutenberg heute E-Books machen?

„Wie geht es eigentlich Marshall McLuhan? Ist er immer noch tot?“ Dieser Witz kursiert unter Freunden der Medientheorie. McLuhan hatte vorausgesagt, dass die Ära des Gedruckten zu Ende gehe.

Marshall McLuhan wird wieder viel gelesen, aber seine Theorien des Medienwandels werden teils anders gedeutet als früher. Viele Medienhistoriker betonen heute weniger den abrupten Umbruch der Mediengewohnheiten als die Kontinuität des Wandels. Und war nicht Gutenberg selbst ein Hacker? Waren es nicht die von ihm erfundenen beweglichen Lettern, welche die Verflüssigung und Digitalisierung der Literatur vorwegnahmen? Kann man das Papierbuch damit nicht vielleicht tatsächlich als Prototyp des E-Books betrachten?

„Die Parallelen zwischen seinem Unternehmen und Start-ups aus dem Silicon Valley sind auffällig“, schreibt Jeff Jarvis in seinem Buch „Gutenberg the Geek“. Jarvis ist Professor für „Entrepreneurial Journalism“ an der City University of New York. Nur fünfzig Jahre nach Gutenbergs Erfindung waren 20 Millionen Buchkopien hergestellt worden, mehr als im gesamten Jahrtausend zuvor.

Andererseits war das nur der Auftakt einer langen, permanent andauernden Weiterentwicklung. Die Seitenzahlen, heute eine Selbstverständlichkeit, tauchten erst zwanzig Jahre später auf und wurden erst fünfzig Jahre später zum Standard.

Jarvis reiste extra nach Mainz, um sein Buch über Gutenberg zu schreiben, denn er hält Gutenberg für den Schutzheiligen des Silicon Valley: „Mit seinem Bibeldruck hat er die Grundlagen für die industrielle Revolution geschaffen.“Read more at location 322   • Delete this highlight

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Das Papier-Internet anno 1912: Sind wir Innovationen ausgeliefert?

Der robotische Buchvertrieb hat viele Vorläufer. Vor hundert Jahren etwa stellte der Reclam-Verlag tausende Buchautomaten in Bahnhöfen auf, um Reisende zu unterhalten. Später produzierte der Verlag kleine Heftchen für Soldaten, die Feldbibliotheken. Bücher sollten mobil sein, unterwegs lesbar, leicht.

Die Mobilmachung der Bücher lag in der Luft.

Der Brüsseler Bibliothekswissenschaftler Paul Otlet entwarf schon vor dem Ersten Weltkrieg so etwas wie einen analogen Vorläufer des Internets: das Mundaneum, eine Art Auskunftei des Weltwissens.  In einem ausgeklügelten Karteikartensystem waren über 15 Millionen Werke handschriftlich verzeichnet und nach Themengebieten geordnet, hinzu kam eine riesige Bilderdatenbank.

Wer eine Frage hatte, sandte einen Brief an das Mundaneum, wo Bibliothekare sich durch den Superkatalog wühlten, um die Anfrage zu beantworten – handschriftlich und per Post, für fünf Centimes pro Karteikarte. Allein im Jahr 1912 wurden 1500 Anfragen gestellt, zu allen erdenklichen Themen, von Bumerang bis zum bulgarischen Finanzwesen. Rückblickend erscheint das Mundaneum wie eine Art analoge Suchmaschine, ein Papier-Google. Statt aus riesigen Servern bestand es aus einem schier endlosen Spalier hölzerner Karteikästen, seit 1920 untergebracht im herrschaftlichen Palais Mondial im Zentrum von Brüssel.

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Je weiter sich die politische Lage verdüsterte, in desto glühenderen Farben malte Otlet seine Aufklärungsvisionen aus. Er plante nun Multimedia-Maschinen, die Buch und Telefon, Fernsehen und Radio verbinden.

Er grübelte über papierlose Arbeitsplätze nach, an denen sich per Telefonnetz Bücher und Filme aufrufen lassen. Das Publikum sollte „vom Sessel aus“ nicht nur durch die Welt des Wissens navigieren, sondern auch „applaudieren, Ovationen geben und im Chor singen“, so Otlet: „Vor unseren Augen entsteht eine gigantische Maschinerie für die geistige Arbeit.“

In mancherlei Hinsicht war sein „mechanisches Gehirn“ nicht nur seiner eigenen Zeit voraus, sondern sogar noch der heutigen. Das zumindest meinen Bibliothekswissenschaftler wie Boyd Rayward von der University of Illinois in Urbana-Champaign.

Otlet wollte zum Beispiel Informationshappen nicht nur einfach verlinken wie im World Wide Web. Er schlug vielmehr intelligente Links vor, die zusätzlich auch Informationen über Wahrheitsgehalt und Kontext beinhalten. Semantic Web wird das heute genannt, und noch immer tüfteln die klügsten Köpfe an der praktischen Umsetzung des Traums, der seit über 70 Jahren zum Greifen nah erscheint.

Je weiter die Visionen des Weltbibliothekars wucherten, desto weniger Verständnis erhielt Otlet. 1934 warf man ihn aus seinem Wissenspalast, zehn Jahre später starb er.

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Die globale Stadtteilbibliothek: Wäre Diderot heute Online-Verleger?

Gutenbergs Traum und der Traum des Project Gutenberg passieren nicht einfach wie von selbst durch technikdeterministische Magie.

Jede Generation muss sich ihr eigenes Wissen neu erkämpfen – oft gegen erhebliche Widerstände.

Das erfährt Robert Darnton jeden Tag von Neuem.  Robert Darnton veröffentlichte schon, bevor er gerade Sätze hervorbrachte.

Sein erster  Artikel erschien in der New York Times, da war er vier Jahre alt. Ein mit seinen Eltern befreundeter Reporter spazierte damals mit ihm durch Washington und notierte, was der kleine Robert so plapperte. Das Pentagon zum Beispiel nannte er „Penny-gone“: Pfennig-Futsch. Das war im Jahr 1943. Siebzig Jahre später ist Robert Darnton ein renommierter Historiker, spezialisiert auf die Geschichte der Bücher. Beherzt mischt er sich ein in den Kampf gegen die Marktmacht von Amazon und Google: „Nach den klassischen Stahl- und Eisenbahnmonopolen droht nun ein Informationsmonopol“, sagt Darnton.

Er nimmt Platz auf dem Bürosofa vis-à-vis des Kamins, an dem sich schon George Washington einst wärmte, noch bevor er der erste Präsident der USA wurde. „Im Wettrennen um Marktanteile droht etwas unter den Tisch zu fallen“, warnt Darnton: „Das Gemeinwohl. Bücher drohen hinter Bezahlschranken weggeschlossen zu werden, statt zu zirkulieren.“

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Doch dieser Traum kollidiert immer wieder heftig mit der Wirklichkeit: „Die größten Hürden sind weder technisch noch finanziell, sondern rein juristisch“, sagt Darnton.

Über ein Dutzend Bücher hat er selbst geschrieben – keines davon ist derzeit in der DPLA zu finden. Denn dort stehen nur „gemeinfreie“ Werke zur Verfügung, deren Copyright abgelaufen ist. Das Wissen der Gegenwart dagegen bleibt weggesperrt.  „Fast alles, was seit 1923 veröffentlicht wurde, ist von uns aufgrund des Copyrights nicht nutzbar“, sagt Darnton. Ständig wird es neu ausgelegt, derzeit schützt es Werke für 70 Jahre nach dem Tod der Urheber.

„Als 1710 das Copyright zur Zeit der Aufklärung in England eingeführt wurde, betrug die Schutzdauer 14 Jahre mit der Option, es einmal zu verlängern“, erläutert Darnton. Damals sei genau abgewogen worden zwischen den Autorenrechten und dem Allgemeinwohl: „Wir sollten uns auf diese Tradition der Aufklärung besinnen.“

Meist nütze die lange Schutzfrist nicht einmal den Autoren selbst, sagt er, denn kaum eine Neuerscheinung verkaufe sich länger als ein paar Wochen, geschweige denn ein Jahr.

„Der Erlös eines meiner Bücher, das vor fast einem halben Jahrhundert erschienen ist, reicht aus, um meine Frau zum Essen einzuladen“, sagt Darnton. „Aber nur alle zwei Jahre. Und nur dann, wenn sie ihre Hälfte selbst zahlt.“

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Ein Pulitzer für den Robo-Autor: Können Maschinen Artikel schreiben?

Dicht gedrängt saß das Publikum im Theaterdiscounter, einem kahlen Bürogebäude hinter dem Alexanderplatz in Berlin. In der DDR befand sich hier ein Fernmeldeamt, an diesem Freitag im September 2012 wurde auf der „Litflow“-Konferenz diskutiert, was passiert, wenn Fernmeldetechnik mit Literatur verschaltet wird.

Larry Birnbaum zum Beispiel, ein lebensfroher, bärtiger Informatikprofessor aus Chicago, stellte seine Firma „Narrative Science“ vor, die vollautomatisch Artikel schreibt, sobald er sein Programm mit Börsenkursen oder Baseball-Statistiken füttert.   „Analysten rechnen damit, dass die Firma Tyco International (TYC) einen geringeren Gewinn melden wird, wenn sie am Mittwoch die Zahlen für das vierte Quartal vorlegt. Trotzdem sind sie generell optimistisch bezüglich dieser Aktie.“

Die vorangegangenen Sätze wurden von einem Computer geschrieben und auf Forbes.com veröffentlicht. In der Autorenzeile steht statt eines Namens einfach: „Narrative Science“. Automat statt Autor.

Wird seine Software vielleicht irgendwann nicht nur über Börsenkurse schreiben, sondern eine erschütternde Reportage? Und dafür einen Pulitzerpreis bekommen, die höchste journalistische Auszeichnung der USA?  Ich hatte diese Frage eigentlich ironisch gemeint. Aber Larry Birnbaum störte sich nicht daran. Und antwortete: Ja. Ein Raunen ging durch den Saal. Vereinzeltes Lachen.

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17 Jahre später hatten wir es bei der Litflow-Konferenz rein äußerlich nicht weiter geschafft als 50 Meter weiter, auf die andere Straßenseite eben. Aber innerlich leben wir in einer anderen Welt, die aus damaliger Perspektive wie Science Fiction gewirkt hätte.

Damals redeten wir über Cyborgs, heute sind wir selbst welche: wir fühlen uns amputiert ohne das Smartphone und wenn wir keine Anrufe bekommen, haben wir das Gefühl von Phantom-Anrufen. Wenn wir eine Frage haben, plaudern wir mit Siri oder Cortana oder einem anderen Programm. Und fahrerlose Google-Autos haben über 300.000 Meilen zurückgelegt – unfallfrei. Bald könnten sich Autofahrerwitze nicht mehr gegen die Einpark-Künste von Frauen richten, sondern gegen die Verkehrstauglichkeit des Homo sapiens: Warum leben Menschen länger als Maschinen? Weil ihnen der Herrgott die Zeit gutschreibt, die sie beim Einparken vertun. Sowas die Richtung.

„Computer“, so nannte man vor 150 Jahren die unterbezahlten Büroangestellten, die per Hand Rechenaufgaben lösten. Wird das Wort Reporter eine ähnliche Sprachentwicklung nehmen und ebenfalls eine Maschine bezeichnen? Elektronische „Reporter“ hätten viele Vorteile, sie schlafen nicht, trinken nicht, verlangen keine Lohnerhöhung. Ich kann mir das heute nicht vorstellen. Aber wer weiß.

Roboterjournalismus der banaleren Art ist heute bereits Alltag. Viele hunderttausend „Artikel“ schreibt Birnbaums Software mittlerweile pro Jahr.

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Atavistisches Lesevergnügen: Brauchen lange Texte herkömmliche Verlage?

Die Welt verblödet vor in Twittergewittern aus 140 Zeichen, Kurznachrichten von ununterbietbarer Banalität, glauben manche. Für Evan Ratliff ist es genau anders herum. „Wir erleben eine neue Blütezeit der Literatur – die meisten Verlage haben das nur noch nicht bemerkt“, sagt er.

Über seinem Büro donnern U-Bahnen über die Manhattan Bridge. Dies ist das Zentrum der Silicon Alley in New York, der Ostküstenvariante der kalifornischen Digitalwirtschaft.  Hinter Ratliff hängt ein Poster mit einem Bild von Hunter S. Thompson, dem großen Reporter der Sechziger Jahre.

Evan Ratliff ist selbst auch Journalist, er wurde bekannt, als er 2009 für das Magazin „Wired“ eine Zeitlang verschwand. Ratliff war irgendwo in den USA untergetaucht und veröffentlichte nun Fotos von sich und seinem Aufenthaltsort. Die Leser sollten versuchen, ihn anhand dieser Indizien aufzuspüren wie bei einem Räuber- und Gendarm-Spiel. Nach wenigen Wochen hatten sie ihn. Doch damit fing für Ratliff die Geschichte erst an.

Er hatte viel mehr Material, als er in seinem Artikel im gedruckten Magazin unterbringen konnte. Er träumte von einem neuen Medium, das sich dem Text anpasst, und nicht umgekehrt. Mit zwei Kollegen gründete er einen Verlag namens „Atavist“.

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Auch wenn ich zuhause arbeite und ein Buch hinter mir im Regal steht, suche ich mir inzwischen die Stellen, die ich noch einmal lesen möchte, meist lieber über einen Dienst wie Google Books heraus.

Die Aussicht, ein echtes Buch aus der Artikelsammlung zu machen, übte auf manche Autoren einen Sog aus, den wir nur mit einem Blog vielleicht nicht erreicht hätten. Die Papierpublikation half auch dabei, uns zu fokussieren.   Das Buch erschien 2010, fünf Jahre nach der ersten Idee, im Wissenschaftsverlag Böhlau, ein Sammelband, 76 Kapitel auf mehr als 400 Seiten, ein Coffee-Table-Buch für fast 25 Euro. Wir stellten es im Naturkundemuseum in Berlin vor, unter dem dreizehn Meter hohen Skelett des Brachiosaurus. Klassischer geht es kaum, fossiler sozusagen. Eine dicke Papierschwarte unterm Dinoschwanz.

Aber die gedruckte Ausgabe war nicht das Ende des Projekts, sondern nur eine Zwischenphase. Unsere Texte haben sich wieder verflüssigt, über fünfzig Kapitel haben wir in Zeitungen und auf Websites veröffentlich, sie mit einer Weltkarte verlinkt, mit Videos und Interviews ergänzt.

Insgesamt erreichten wir, wenn man die einzelnen Abdrucke zusammenzählt, weit über 100.000 Abrufe einzelner Kapitel, allein über unser Blog waren es über 30.000. Wir bekamen ein paar lobende Rezensionen. Aber das gedruckte Buch habe ich in Buchhandlungen nur selten gesehen – es wäre auf Papier fast unsichtbar geblieben.

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Manchmal erwische ich mich dabei, dass ich intellektuell wirkende Zitate unterstreichen will, um damit anzugeben. Schließlich kann jeder sie nachlesen, wenn ich sie ins Netz lade.

Der einst intime Akt des Lesens kann so zur Ego-Performance werden. Ich sitze zu Hause auf dem Sofa und spüre dies leichte Kribbeln im Nacken, als würde mir ein Publikum über die Schulter schauen. Vielleicht ändere ich bald meine Privatsphäre-Einstellungen, und lasse nur noch ausgewählte Freunde durch meine virtuellen Bücherregale stöbern.

Sachbücher werden immer wieder weggelegt, während Romane eher in einem Rutsch durchgelesen werden. Das hat der Buchhändler Barnes & Noble festgestellt bei der Analyse des Leseverhaltens seiner Kunden, die E-Books gekauft haben. Das Leseverhalten der Kunden wirkt damit zurück auf das, was geschrieben wird. „Früher haben wir Bücher gelesen“, sagt Stephan Porombka: „Heute lesen die Bücher auch uns.“

Seit Verlage bemerken, dass viele ihre Sachbücher nicht durchlesen, konzentrieren sie sich auf die beliebte Kurzbuchform mit Namen wie „Snaps“ oder „Singles“. Doch es gibt auch eine gegenläufige Tendenz: Seit Juli 2015 werden einige Amazon-Autoren, die am Flatrate-Programm „Kindle Unlimited“ teilnehmen, das Lesern das unbegrenzte Lesen erlaubt, danach bezahlt wie viele Seiten ihrer Bücher von Lesern gelesen worden sind. Dies Pay-per-Page-Prinzip belohnt langatmige Beschreibungen gegenüber kurzen, präzisen Informationen. Aber nur, solange die Leser nicht aussteigen.

Auch als Autor spüre ich einen verstärkten Sozialdruck, ich ertappe mich beim Grübeln über Formulierungen mit möglichst hoher Tweetabilität: griffige Schmuckzitate, die meine Leser in Netzwerken verteilen könnten.

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Gibt es Fernleihe auch für elektronische Bücher?

Als der Schriftsteller Johann Gottfried Seume im Jahr 1802 seinen „Spaziergang nach Syrakus“ machte, steuerte er auf dem Weg von Sachsen bis Sizilien gern die lokale Bibliothek an. Bücher waren früher oft nicht ausleihbar. Wer lesen wollte, musste mobil sein.

Jetzt ist es wieder so weit.

Wenn ein Student aus Freiburg ein Papierbuch der Universitätsbibliothek Basel lesen will, kann er es über Fernleihe bestellen. Sollte es jedoch nur als E-Book vorliegen, gibt es meist keine Fernleihe. Dann muss er in den Zug nach Basel steigen und es sich dort an einem Uni-Computer durchlesen. Ein Paradox: Was in der Papierära des 20. Jahrhunderts noch per Fernleihe um die Welt ging, wird in Zeiten des Internets lokal gehütet. Es ist gerade die Leichtigkeit, mit der elektronische Schriften um die Welt geschickt werden können, die nun dazu führt, dass man sie digital wegsperrt. Das Buch kommt nicht zum Leser, sondern der Leser zum Buch. Wie im 19. Jahrhundert.

Die Fernleihe wurde 1893 in Preußen festgeschrieben, mit dem „Erlass betreffend den Leihverkehr“. Doch der gilt nicht im elektronischen #Neuland. Hier diktieren die Verlage den Bibliotheken ihre Konditionen, getrieben von der verständlichen Angst vor Raubkopien. Diese Angststarre ist verständlich. Doch das Nachsehen haben die ehrlichen Leser.

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Viele elektronische Bücher existieren überhaupt nur auf geschlossenen Plattformen wie iBooks von Apple oder Kindle von Amazon. Etliche Verlage erschweren den Zugang zu ihren Werken durch Schutzprogramme.

Der Konzern Adobe, auf dessen System ein Großteil aller E-Books basiert, stellte 2014 seine Software um. Viele ältere Lesegeräte könnten die neuen E-Books vielleicht bald gar nicht mehr anzeigen.

Es geht dabei nicht nur um den jüngsten Krimi von Jussi Adler-Olsen. Es geht auch um den Kern der Wissensgesellschaft: Aufsätze und Bücher von Forschern. „Wir haben Tausende E-Books, die wir unseren Nutzern per Internet zur Verfügung stellen könnten“, sagt Harald Müller, Jurist und Bibliotheksleiter am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. „Das dürfen wir aber oft nicht, weil die Nutzungslizenzen so restriktiv sind.“

Das Urheberrecht führe oft zu „putzigen Skurrilitäten“, sagt der Forscher: Angenommen, er will einen bestimmten Aufsatz per Fernleihe von einer amerikanischen Bibliothek einsehen. „Die Kollegen drucken den dann auf Papier aus, schicken ihn per Fax – und ich scanne ihn hier wieder ein.“ Nur, weil das Verschicken per E-Mail nicht erlaubt ist.

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Die Feinjustierungen sind oft winzig, aber wirkungsvoll, wie etwa bei verwaisten Werken, deren Autoren nicht mehr ermittelt werden können.

Bisher durften zum Beispiel alte, zerbröselnde Zeitungen nicht digitalisiert werden, solange nicht sämtliche Urheber gefragt worden waren – Kulturgut fiel dem Copyright zum Opfer, vernichtet durch Gesetze, die es doch eigentlich schützen sollen. Seit 2014 begrenzen neue „Schrankenregelungen“ das Urheberrecht, so dass das Einscannen verwaister Werke einfacher geworden ist. Derlei kleine Änderungen könnten durch die Hintertür auch ermöglichen, dass Wissenschaftler ihre Aufsätze ins Internet stellen – allerdings erst ein Jahr nach Erscheinen in einem Fachjournal.

Doch nach wie vor gilt für viele Wissensdurstige: Sie reisen künstlich verknappten E-Books hinterher, um sich in einer Bibliothek handschriftlich Notizen zu machen – wie einst Mönche in klösterlichen Skriptorien. Oder wie der wandernde Literat Seume auf seinem Spaziergang nach Syrakus vor über 200 Jahren. Zurück in die Zukunft.

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Wie geht es weiter nach dem derzeitigen Bibliotheks-Boom?

Ist er eine letzte Blütezeit einer sterbenden Gebäudegattung – oder der Aufbruch in eine große Zukunft?

Die Bücherdepots wandeln sich zu multimedialen Treffpunkten.   Die Rolex-Bibliothek in Lausanne steht dabei für die maximale Verwandlung in Richtung Erlebniszentrum. Noch offener geht nicht, sonst würde sie vollends wie ein Freizeitpark wirken.  „Wir haben hier so etwas wie ein Disneyland des Wissens gebaut“, sagt David Aymonin im Herbst 2011 mit einem ironischen Lächeln.

Der bärtige Mann hat den Bau geleitet. Bibliothekare seien nicht mehr so sehr den Büchern verpflichtet, sondern mehr den Nutzern, sagt er. Die Digitalisierung der Bücher und die verkürzten Studienzeiten förderten den Bau neuartiger Bibliotheken. „Viele Studenten verbringen einen Großteil des Tages hier, wir befriedigen daher viele Grundbedürfnisse: Essen, Ausruhen, Einkaufen und natürlich den Zugang zu Lehrbüchern.“

Insbesondere während der Prüfungszeit verdoppelt sich die Nachfrage nach Büchern, Essen und Kaffee.

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Dass die neuartigen Lesemaschinen zunächst noch auf Papier gedruckt wurden, habe dabei nur kaschiert, dass sich zwischen den Buchdeckeln bereits so etwas wie eine analoge Suchmaschine entwickelte, sagt Kaplan: Durch die Seitenzahlen, durch Inhaltsverzeichnisse, Fußnoten, Bibliografien.

Ist diese Verwandlung von Texten in Textmaschinen nun gut oder schlecht? „Es ist, wie es ist“, sagt Kaplan: „Nun gilt es, das Beste daraus zu machen.“

Für Kaplan ist das Rolex-Center schon heute gnadenlos veraltet, eine permanente Baustelle, brauchbar einzig als ein Labor, um das zu erforschen, was nach der Bibliothek kommen könnte. „Wer ein Buch vor sich liegen hat, kann dabei gut diskutieren, aber ein Laptop-Bildschirm ist eine visuelle Barriere, die die Menschen voneinander trennt“, sagt Frédéric Kaplan. Er wolle den Personal Computer ablösen durch den „Interpersonal Computer“.

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Der Harvard-Philosoph David Weinberger („Too big to Know“) drückt das Prinzip so aus: „The smartest person in the room is the room“ – das Text-Netzwerk soll angeblich klüger sein als die Summe seiner Teile. Diesem Ansatz folgend hat Kaplan in Lausanne in einen Tisch Mikrofone eingebaut, die registrieren, an welcher Tischseite am meisten geredet wird.

„Wenn ein Gespräch in einen Monolog abdriftet, interveniert der Tisch, indem er sich verfärbt“, sagt Kaplan.  Dann muss er über sich selbst lachen: Der Tisch vor ihm leuchtet seit ein paar Minuten alarmrot.

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Sind E-Books unmoralisch?

Gern benutzen E-Book-Kritiker eine Haltung der moralischen Entrüstung über den angeblichen Werteverfall durch Digitalisierung: „Wenn man ein E-Book herunter lädt, lohnt es sich, einen Augenblick innezuhalten und sich zu überlegen, wofür man sich da entscheidet und was diese Entscheidung bedeutet“, schrieb die Schriftstellerin Nicole Krauss in der „Faz“.

Ja, überlegen wir doch wirklich einmal, was diese Entscheidung bedeutet –  außer einem Verrat an den Umsätzen des stationären Buchhandels.

Für Blinde, Sehbehinderte und Legastheniker zum Beispiel bedeuten E-Books vor allem eine große Hoffnung, intensiver an der Buchkultur teilzuhaben. Mit Papierbüchern können sie wenig anfangen, digitale Formate wie „Daisy“ dagegen ermöglichen die unterschiedlichsten Ausgabeformen, von Braille-Lesegeräten bis zum automatischen Vorlesen („Digital Talking Books“). Und 400 Millionen Nutzer in 46 wirtschaftsschwachen Ländern haben heute eine umfassende Enzyklopädie in ihrer Hosentasche in Form ihres Telefons – ohne dass für die Nutzung Verbindungsgebühren anfallen, denn die werden bei Projekten wie Wikipedia Zero erlassen.

Selten verlieren Zellulose-Nostalgiker über derlei neue Formen des barrierefreien Lesens ein Wort.   Für einige Gehörlose wirkt die Digitalisierung noch viel fundamentaler: Für sie könnten E-Texte sogar erst ermöglichen, so etwas wie eine eigene Schriftlichkeit zu entwickeln. Diese Entwicklung geht zwar weit über das herkömmliche E-Book hinaus. Aber genau darum lohnt sich ein kleiner Ausflug in diesen eher entlegenen Arm der Gutenberg-Galaxis.

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Wenn das Gespräch beginnt, kehrt Stille ein.

So lebhaft sie auch plaudern an einem Abend im Jahr 2011 in Göttingen, so ist doch kein Laut zu vernehmen. Denn die, die hier miteinander reden, hören nicht.

Zur Diskussion geladen hat Susanne König vom Institut für Deutsche Gebärdensprache der Uni Hamburg. Mit einem Team von Kollegen und einem mobilen Studio reist sie kreuz und quer durchs Land, um ein kaum kartiertes Terrain zu vermessen: die Sprache der Gehörlosen.

Die Diskutanten haben die Welt um sich vergessen: das mobile Videostudio, die drei Computermonitore, die Scheinwerfer, die fünf Kameras, hochauflösend und in 3-D. Hinter dem blau ausgekleideten Verschlag sitzt ein Techniker und überwacht den Gestenschwall, der dann auf Festplatten kopiert und nach Hamburg geschafft wird – ein weiterer Baustein für ein Gebärdensprach-Wörterbuch der Zukunft namens „DGS-Korpus“.

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Künstler stehen „wie Penner in der letzten Reihe“, schimpfte der Musiker und Autor Sven Regner im März 2012 in einem Radio-Interview. Die Gratiskultur mache Kunst und Künstler kaputt, sagte er: „Ein Geschäftsmodell, das darauf beruht, dass die, die den Inhalt liefern, nichts bekommen, das ist kein Geschäftsmodell, das ist Scheiße.“

Er bekam für seine berühmte Wutrede viel Applaus. Und trat einen erbitterten Streit um das Urheberrecht los.

„Der Sänger und Schriftsteller Sven Regner hat mir bei seinem Wutausbruch gegen die verbreitete Missachtung der Urheber aus dem Herzen gesprochen“, stimmte ihm etwa der Kulturstaatsminister Bernd Neumann zu:„Wenn dies nicht mehr gewährleistet wird, entzieht man Künstlern ihre Existenzgrundlage und die kulturelle Vielfalt, die unser Land schmückt, wird nicht mehr erhalten werden können.“

Für Sätze wie diesen nahm Neumann 2012 vom Verband Mittelständischer Verlage den „Sally“-Preis entgegen. Doch seine Aussage entspricht nach derzeitigem Stand der Forschung nicht der Realität.

Denn das Urheberrecht bildet in den meisten Fällen eben nicht die Existenzgrundlage der Künstler, wie die internationale Forschung zeigt.  Je länger man mit Urheberrechts-Forschern spricht, desto stärker drängt sich ein eigenartiges Paradox auf: Die Wissensgesellschaft ist blind für sich selbst. Sie ist taub für die Frage:Wie entsteht Wissen? Wie lässt es sich fördern?

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Martin Kretschmer konnte einen ersten, flüchtigen Blick erhaschen auf die in Deutschland schlummernden Daten. Er studierte an der FU Berlin und der London School of Economics und leitet heute im britischen Bournemouth das Center for Intellectuell Property Police and Management.

Im Juli 2007 veröffentlichte er mit Kollegen einen Aufsatz zur Frage:Wovon leben Künstler eigentlich in Deutschland und Großbritannien – und wie kann man sie am besten unterstützen bei ihrem kreativen Schaffen? Diese Studie beruht auf einem Fragebogen, den 25.000 Autoren ausgefüllt haben, es ist die größte Forschungsarbeit dieser Art. Sein Fazit ist klar:„Die empirischen Daten belegen, dass das Urheberrecht dabei versagt, die finanzielle Unabhängigkeit von Kreativen zu sichern.“

Selbständige Künstler verdienen typischerweise etwa 1.000 Euro pro Monat, weniger als die Hälfte herkömmlicher Angestellter. Ausnahme:wenige Gutverdiener unter den Autoren.„Vielleicht ist das Copyright nur für Bestseller geeignet“, schreibt Kretschmer.

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Kretschmer will nicht anklagen, schließlich wird niemand gezwungen,Schriftsteller zu werden. Er will mit der Studie lediglich erkunden, wie wichtig das Urheberrecht wirklich ist im Konzert der Marktfaktoren. Eigenartigerweise wurde seine Studie fast komplett ignoriert – sogar von Kulturstaatsministern.

Vorgeblich geht es bei dem Streit ums Urheberrecht darum, Künstler zu unterstützen. Umso skurriler wirkt, dass die grundlegendsten Einsichten in die tatsächlichen Lebensumstände von Künstlern dabei oft ignoriert werden.

Gema und Co. sitzen dabei eigentlich auf dem perfekten Datensatz, um weltweit einzigartige Forschung zu betreiben: unter welchen Bedingungen Ideen in Geld umgemünzt werden – oder auch nicht. Doch die Verwertungsgesellschaften sträuben sich hartnäckig.

Kretschmer hat vor allem einen Wunsch:„ein Forschungsprogramm, das Anekdoten und Lobbyistenzahlen mit wissenschaftlichen Standards begegnet.“ Seine Forderung: „Als erster Schritt sollten die Verwertungsgesellschaften gezwungen werden, ihre Daten anonymisiert zur Verfügung zu stellen.“ Eine naheliegende Forderung. Jeder, der Folgen der Digitalisierung begrüßt oder verurteilt, sollte  ein gewisses Interesse an den Fakten haben . Stattdessen dominiert meist eine evidenzfreie Meinungsfreude im Streit um Urheberrechte und Copyright.

Viele Experten tauchten in der öffentlichen Debatte so gut wie gar nicht auf. Der Sänger Sven Regener gilt als fester Bezugspunkt beim Thema Urheberrecht. Der international anerkannte Experte Christian Handke dagegen ist bislang so gut wie unbekannt

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Handke rührt in seinem Espresso. In einem Café in Kreuzberg plaudert er über das große Streitthema: Wie sehr schaden Tauschbörsen der Kreativität? Und wie könnten Lösungen aussehen?

Handke ist weder Musiker noch Verlagsleiter noch Polit-Aktivist.Er gilt als einer der meistzitiertenForscher in Sachen Urheberrecht. Handke ist Professor für Kulturökonomie an der Erasmus-Universität in Rotterdam. Er hat diverse Institutionen in Fragen des Urheberrechts und der Kulturfinanzierung beraten, darunter die deutsche Expertenkommission Forschung und Innovation, die Europäische Kommission, Industry Canada, das UK Intellectual Property Office und die US-amerikanische National Academy of Sciences.

„Leider wird derzeit rein ideologisch argumentiert“, sagt Handke. Sein Wort hat im Ausland Gewicht, die amerikanischen National Academies of Science hatten ihn beauftragt, den derzeitigen Wissensstand in Sachen Urheberrecht zusammengetragen. Er sichtete dafür hunderte von Studien, Aufsätzen und Büchern von Juristen, Ökonomen, Soziologen aus aller Welt. Und erlebte eine Überraschung:„Intuitiv denken viele Menschen so wie einst der Kulturstaatminister Bernd Neumann, dass es ohne das heutige Urheberrecht keine Kreativität geben würde“, sagt er:„Aber für diesen Zusammenhang gibt es keine Belege.“

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Wo liegt der Ausweg aus den vergifteten Urheberrechts-Debatten?

Was befreit uns aus dieser selbstverschuldeten Unmündigkeit in Sachen Copyright? „Evidenzbasierte Politik“, so lautet die Empfehlung von Ian Hargreaves.

Auf Bitten der britischen Regierung hat der Mittfünfziger ähnlich wie Handke einen Überblicksbericht vorgelegt, den sogenannten Hargreaves-Report. Der ehemalige BBC-Journalist ist Professor für Digitale Wirtschaft an der Uni Cardiff.  Sein Team studierte hunderte von Aufsätzen,  konsultierte über 300 Kreative, Investoren, Erfinder, Juristen und Forscher in England, Washington und im Silicon Valley.

Die Gespräche ergaben: Entscheidend für wirtschaftlichenErfolg von Kreativität und Innovation sind vor allem Tempo, Marktzugang, einfache Regeln, niedrige Transaktionskosten wie Transport, Zölle, Vertrieb. Erst an fünfter Stelle nennt er Copyright und Patentrecht.

Der Rechtsschutz der Urheber sei zwar wichtig – aber eben nur ein Mosaiksteinchen unter vielen.

Hargreaves nennt etliche Studien, die belegen, dass zwei Drittel der Tauschbörsennutzer bereit sind, zu zahlen, wenn der Preis ihnen angemessen erscheint. Vor allem regt er eine einheitliche europäische Urheberrechts- und Copyrightbörse an, wo sich Rechte für Filme, Musik und Texte schnell und einfach handeln lassen. Denn viele verwaiste Werke seien heute ungenutzt, weil sich die Rechtefrage nicht klären lässt: über 225.000 Filme gelten Europaweit als verwaist, 95 Prozent der vor 1912 in Großbritannien veröffentlichten Zeitungsartikel und über 17 Millionen Fotos allein im Britischen Museum.

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Die Urheberrechts-Forschung ist so wertvoll, weil sie immer wieder der Intuition widerspricht.

Zur Goethezeit zum Beispiel verdienten und produzierten deutsche Autoren über fünfmal so viel wie ihre Kollegen in Großbritannien. Und jetzt die Überraschung:England hatte ein Copyright, Deutschland nicht.

Diesen historischenFall belegt Eckhard Höffner, ein Jurist und Rechtshistoriker, in einer zweibändigen Riesenstudie akribisch. Seine Erklärung: Deutsche Verlage mussten ständig neue Werke drucken, um sich der Nachdrucker zu erwehren, das heizte Preise und Kreativität an.

„Mir scheint das alles nicht nur sehr plausibel, sondern es entspricht meinen eigenen Einschätzungen, was Herr Höffner schreibt“, bestätigt Reto Hilty, Direktor am Max-Planck-Institut für Immaterialgüterrecht in München.

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Guillotinierung und Wiedergeburt: Wie kann ich alte Papierbücher digitalisieren?

Mein eigener Lesemaschinenpark läuft keineswegs rund, E-Books sind bislang alles andere als perfekt. Viele Digitalbücher kommen nicht mit Fußnoten klar, die kleinen Zahlen zerschießen den Zeilenfall. Auch Worttrennungen werden oft an beliebiger Stelle vorgenommen. Hin und wieder kaufe ich ein Buch, das sich als Betrug herausstellt: zusammenkopierte Satzfetzen aus der Wikipedia. Dann tausche ich es um. Vielleicht brauchen wir bald so etwas wie Virenschutzprogramme gegen Spambücher.

Und gelegentlich schaltet sich mein Lesegerät einfach so ab, um übers Funknetz ein Update herunterzuladen oder es hängt sich grundlos auf. Dann starre ich ein paar Minuten lang auf den eingefrorenen Bildschirm und denke über das Gelesene nach, bis sich das Gerät wieder fängt. Eine Art meditative Zwangspause.

Der Crash als Kunst wird sogar in einem eigenen Papier-Büchlein gefeiert, mit Aufnahmen von Fehlfunktionen auf E-Readern unter dem Titel: „56 Broken Kindle Screens“. Manchmal stehe ich vor meinen Regalen mit den alten Büchern, ziehe einen Band heraus und denke mir: Das Werk würde ich gern auch in der Hosentasche dabei haben.

Viele Bücher habe ich mir deshalb inzwischen noch einmal als digitale Ausgabe gekauft. Die Autoren und Verlage verdienen so doppelt an mir, teils sogar dreifach, weil ich beim Joggen gerne Hörbücher höre, für die ich dann noch einmal extra zahle.

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Neuerdings bestelle ich manchmal Bücher, die es nur auf Papier gibt, und lasse sie nach Kalifornien schicken, zum Dienstleister 1dollarscan.com. Dort hackt eine Art Guillotine den Buchrücken ab, dann rauschen die Seiten automatisch durch einen Scanner; pro 100 Seiten kostet der Service einen Dollar. Zwei Wochen nach der Bestellung kann ich das digitale Buch auf mein Lesegerät laden. Die Qualität ist teils ähnlich miserabel wie bei einem handgemachten Mixtape, aber ich fühle mich wie ein Pionier.

Eigentlich habe ich damit den Job des Verlags erledigt, dem ich gern zehn Euro für ein E-Book bezahlt hätte. Wieso will er mein Geld nicht?

Bücher brechen auf und verflüssigen sich, und auch die Besitzverhältnisse geraten ins Fließen. Meine E-Books gehören mir nie ganz. Diese Erfahrung machten Kindle-Kunden schon vor ein paar Jahren, als ihnen Bücher wegen eines Lizenzstreits mit dem Rechteinhaber einfach so vom Lesegerät gelöscht wurden – darunter auch „1984“, George Orwells dystopischer Roman über den totalen Überwachungsstaat.

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Eigentümliches Eigentum: Wem gehören E-Books eigentlich?

Teilweise hat der Kontrollverlust über meine Bücherregale etwas Befreiendes. Wissen konnte man noch nie physisch besitzen, nur erinnern. Das erkannte schon der griechische Philosoph Sokrates vor 2400 Jahren. Als einer der ältesten Medienkritiker der Welt tat er sogar die Schrift selbst als oberflächliches Medium ab, das weit zurückbleibe hinter der gesprochenen Sprache. Ganz einig sind sich die Gelehrten über die Zuverlässigkeit dieser Aussagen allerdings nicht. Denn Sokrates hinterließ konsequenterweise keine Aufzeichnungen.

Das banale Schreiben überließ er lieber seinem Schüler Platon.

E-Books sind ungreifbar wie Wassermoleküle, das ist ihre Stärke, das ist ihre Schwäche. Manchmal verdunsten sie auch ganz.

Werde ich meine elektronische Bibliothek auch in zwanzig Jahren noch benutzen können? Ich bezweifle es. Immer wieder gehen selbst Profis riesige Datensätze einfach so verloren, die US-Weltraumbehörde Nasa musste schon nach neun Jahren feststellen, dass die Daten der Weltraumsonde „Viking“ teils fast unlesbar geworden waren, über eine Million Magnetbänder sind ebenfalls im Nirwana verschwunden. Falls Amazon strauchelt wie viele Internet-Imperien zuvor, geht meine Bücherwolke vielleicht in den Besitz eines Finanzspekulanten mit Sitz auf den Cayman Islands über. Und wenn ich sterbe, kann ich viele meiner E-Books nicht vererben, das verbieten teils die Geschäftsbedingungen.

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Bücher zu Buchen: Ist Buchentsorgung ein Sakrileg?

Mittlerweile habe ich immer weniger Bedenken, Papierbücher auszusortieren. Doch die Tücke liegt im Detail. Ich war schon bei drei Antiquariaten, keines wollte meine Bücher haben, der Markt sei überschwemmt, hieß es. Dann wollte ich 15 Bücherkisten verschenken – doch auch das überforderte den Empfänger, ein ehrenamtliches Antiquariat.

Der kultivierte Umgang mit Büchern erfordert heutzutage auch eine Strategie der würdevollen Entsorgung. Jürgen Neffe zum Beispiel pflegt ein kleines Abschiedsritual. Neffe ist Bestsellerautor („Darwin. Das Abenteuer des Lebens“) und Digitalpionier, der mit seinem Start-up „Libroid“ versucht hat, eine interaktive, multimediale Leseplattform zu etablieren. Damit ist er zwar gescheitert, aber dem digitalen Lesen bleibt er treu.

Wenn er also wieder einmal Papierbücher aussortiert, wirft er sie nicht einfach ins Altpapier, sondern stapelt sie auf einem Altpapiercontainer zu einem kleinen Haufen wie ein Stupa, ein tibetischer Grabhügel. Dann setzt er sich in ein Straßencafé gegenüber, liest eine Zeitung oder ein E-Book, und blickt hin und wieder auf. Und sieht, wie oft schon nach wenigen Minuten sein Bücher-Stupa schrumpft, wie das Papier sich aufzulösen scheint, eingespeist in den großen Kreislauf des Lesens.

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Wenn eine Altbücher-Kiste voll ist, bringe ich sie zur Post. Das ist ein ungemein erleichterndes Gefühl. Binnen zwei Wochen erhalte ich mein Geld.

Momox ist eine deutsche Erfolgsgeschichte, gegründet von dem damals Arbeitslosen Christian Wegner. Inzwischen hat Wegner mehr als 500 Mitarbeiter. Der Januar ist der umsatzstärkste Monat – dann werden die Weihnachtsgeschenke entsorgt.  Fünfzehn Prozent der Bücher sind jedoch auch für Momox unverkäuflich. Eigentlich verkauft Wegner die Bücher weiter. Der Rest wird containerweise an ein Recyclingunternehmen verscherbelt.

Wegner kennt die Empfindlichkeiten seiner Kunden, Bücher wegzuwerfen gilt hierzulande als Akt der Barbarei: Daher spendet der Internetpionier den Erlös aus dem Recycling an Aufforstungsprojekte, zum Beispiel am Berliner Müggelsee. Dort werden alte Bücher dann sozusagen zu Rotbuchen. Eine tröstliche Vorstellung, dass meine einstigen Papierbücher im Abendwind rauschen.

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Epilog: Mit Google zur Verlobung

Bedeutet die Ära der elektronischen Lesemaschinen eine Entzauberung der Bücherwelt? Kulturpessimisten befürchten das:

„…nie scheint Ihr Vater Ihnen ein Buch aus seinem Bestand geschenkt zu haben mit dem Hinweis, dass es einst in einer Bombennacht Schutz und Trost gespendet hat.“

Der Leserbriefschreiber hat recht. Aber anders als er vielleicht vermutet: Meine Eltern haben uns drei Kindern zwar immer viel vorgelesen, aber die Bücher kamen oft aus der Stadtbücherei. Keine Ahnung, durch welche Kinderhände sie heute gehen. Vielleicht schwanken sie auch längst als Buchen im Wind.

Habent sua fata libelli, heißt es, Bücher haben ihre eigene Geschichte. Das gilt auch im Zeitalter ihrer elektronischen Reproduzierbarkeit. Zumindest geht es mir so mit einem Buch, das bei der Verlobung meiner Eltern eine Rolle spielte.

Die beiden hatten sich als Schüler in Hannover kennengelernt, dann fast aus den Augen verloren. Mein Vater studierte in den 1950er Jahren München Ingenieurwissenschaften, meine Mutter lebte nach dem Pädagogikstudium als Au-pair bei einer Familie in der nordenglischen Industriestadt Leeds. Sie schrieben sich Briefe, dann besuchte mein Vater sie im Sommer.

Sie reisten mit dem Zug, per Anhalter und mit Wanderstiefeln durch Nordengland und Irland. An einem Sommernachmittag machten sie Rast bei Danby, einem Dorf in den wildromantischen North York Moors unweit von Scarborough.   Mein Vater holte ein Buch aus seinem Rucksack. „Wir hatten nur das Nötigste mit“, so erzählt meine Mutter gern von diesem Tag: „und er schleppt ausgerechnet Bücher mit herum!“ Sie genießen dieses Gespräch. „Wieso, das war doch Dünndruck“, sagt mein Vater dann.

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Gemeinsam mit meinen Eltern erkundeten wir das Dorf Danby, umgeben von wilden Höhenzügen, mit nichts als mächtigem Farn bewachsen.

Die beiden hielten Ausschau nach dem Kirchturm mit dem quadratischen Grundriss und den Fenstern wie Schießscharten. „Heureka, wir haben es gefunden“, rief mein Vater. Dort, wo die Tofts Lane auf den Gate Way stößt. Dort haben sie damals gesessen mit Novalis.

Diese nostalgische Reise haben wir nicht körperlich gemacht, sondern per Google Street View, meine Eltern saßen in Hannover am PC, ich in Berlin am iPad.  Auch den Novalis-Text fand ich nach wenigen Klicks im Netz, bei Project Gutenberg. Denn sein Copyright ist schon lange erloschen. Seitdem habe ich Hyazinth und Rosenblütchen immer dabei auf dem Handy.

Das Buch hat zwar keinen Sand zwischen den Seiten. Aber fast. Denn der Prozessor ist aus Silizium, einer Art veredeltem Sand. Es ist das zweithäufigste Element des Planeten (nach Sauerstoff). Wer unbedingt daran hängt, kann also die gute alte Erlösungsmetapher der Papierfrömmigkeit beibehalten, leicht aktualisiert: So wie einst Lumpen zu Papier geläutert wurden, kann Sand sich in Märchen verwandeln, geschrieben mit Licht. Ganß neu und rein, daß Gottes Hand/ Auff dich mög seinen Willen schreiben.

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Und wer weiß, vielleicht gibt es ja bald eine App, die auch virtuelle Whiskeyflecken auf meine E-Books zaubert.   Willkommen in Gutenbergs neuer, alter Galaxis.  Diskutieren Sie mit auf Twitter: #alleswirdgutenberg

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Der Autor Hilmar Schmundt, geboren 1966, ist Redakteur im Wissenschaftsressort des SPIEGEL und lebt in Berlin.

Für die Artikel, auf denen dieses E-Book basiert, wurde er 2015 mit dem Publizistenpreis des deutschen Bibliotheksverbandes ausgezeichnet. 2005 bekam er den Preis der Akademien der Technikwissenschaften (acatech). Sein Buch „Mekkas der Moderne“ (2010) wurde als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet (www.mekkasdermoderne.de).

Sein Prinzip ist die teilnehmende Beobachtung. 1995 gründete er das Computerliteratur-Festival Softmoderne mit. Schon damals sah er das noch junge World Wide Web als eine Erfindung von Bibliomanen und Johannes  Gutenberg nicht nur als Patron der Buchkultur, sondern auch der Start-up-Szene. Der dazugehörige Hashtag auf Twitter lautet: #alleswirdgutenberg.

„Seine mit hoher sprachlicher Qualität und großer Präzision verfassten Beiträge sind spannend zu lesen und hervorragend recherchiert. Zudem gelingt es Schmundt, seine Leser durch das offensive Einbeziehen eigener biografischer Erfahrungen bei der Erprobung neuer medialer Lese-Möglichkeiten zu eigenen Erkundungen zu ermuntern. Hilmar Schmundt scheut sich nicht, auch politisch kontroverse Themen wie beispielsweise das Urheberrecht oder die Nutzung von E-Books in öffentlichen Bibliotheken pointiert anzusprechen. Dabei nimmt er Stellung, argumentiert und plädiert für zukunftsweisende Veränderungen.“

(Pressemitteilung des deutschen Bibliotheksverbandes am 6.5.2015)

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Alternative Cover-Entwürfe:

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