Niemand kriegt, was er sich wirklich wünscht. Deshalb machen wir ja weiter. Wenn man nur ein einziges Mal bekäme, was man sich wirklich wünscht, man würde auf der Stelle mit dem Leben aufhören.
So muss man fortfahren, sich etwas zu wünschen, das nicht da ist, Jedermann braucht seinen höchstpersönlichen Roman, wie das Leben auszusehen hätte.
Michael Rutschky, Lebensromane
Hier ein Hypertextprojekt, das Michael Rutschky 1999 entwickelt hat für das Hypertext-Festival „Die Softmoderne“. Die Idee: Man stelle sich ein Fotoprojekt ein bisschen wie einen Zauberwürfel vor. Der „Berlinroman“ von R. stellt dabei nur eine Seite des Würfels dar – bietet aber eine fast Unendliche Zahl von Anknüpfungspunkten zu weiteren Projekten auf anderen Würfelseiten von anderen Autoren, die noch gar nicht wissen, dass sie später einmal teilnehmen werden. Kein in sich geschlossenes Überwältigungsprojekt, im Gegenteil. Eine bewusst unfertige, offene, zukunftshungrige Skizze. Das Vernetzungs-Projekt eines Authors‘ author. Typisch Rutschky.
Ich dachte, der Berlinroman sei verschollen. Heute sehe ich: Die wunderbare Wayback Machine des Internet Archive“ hat anscheinend eine (leider unvollständige) Kopie gespeichert. Das Vergangene ist nicht vergangen – es ist nur ungleich verteilt.
Ein eisiger Wind weht herauf an diesem Morgen. Fast 200 Meter hoch ist die Europabrücke am Brennerpass. Wie eine Modelleisenbahnlandschaft sehen die Häuser, Wiesen und Wälder von hier aus.
Gleich soll sich ein Freiwilliger in die Tiefe stürzen – im Dienste der Wissenschaft. Hirnforscher haben sich auf einer schwankenden Reparaturplattform verschanzt und schauen auf ihre Monitore. Die Wissenschaftler wollen live verfolgen, was im Kopf eines verkabelten Bungeespringers vor sich geht.
„Wir machen ein Experiment, an das sich noch niemand vor uns gewagt hat“, sagt Lüder Deecke, ein distinguierter Herr mit wehender weißer Haartolle: „Wir wollen der Frage nach dem freien Willen nachgehen, und zwar nicht im Labor, sondern erstmals draußen unter extremen Bedingungen.“
Eigentlich ist Lüder Deecke zu alt für solche Abenteuer. Der emeritierte Professor für Neurologie wird in diesem Sommer 80 Jahre alt. Er muss sich auch nichts mehr beweisen, nach über 600 Fachpublikationen, mehreren Büchern und Auszeichnungen. Sein Ruhm gründet sich auf einem Experiment, mit dem er bereits 1964 als Student ein bis dahin unbekanntes Hirnphänomen entdeckte: das sogenannte Bereitschaftspotenzial.
Gemeinsam mit seinem Doktorvater Hans Helmut Kornhuber fand er an der Uni Freiburg heraus: Wenn wir eine willkürliche Bewegung machen, geht dieser rund anderthalb Sekunden vorher ein elektrisches Potenzial im Hirn voraus. Die Forscher hatten Versuchspersonen Elektrodenkappen aufgesetzt. Anhand der gemessenen Hirnströme (EEG) konnten sie mit hoher Wahrscheinlichkeit „voraussagen“, dass ein Proband gleich die Hand heben würde – was dann tatsächlich geschah.
Doch was bedeutet diese wissenschaftlich fundierte Hellseherei? Deecke trat mit seiner Entdeckung eine erbitterte Kontroverse los, die auch heute, ein halbes Jahrhundert später, noch nicht beendet ist. Macht unser Gehirn wirklich mit uns, was es will? Ist der freie Wille eine Illusion?
Nach dieser Deutung wäre der Mensch nur eine bessere Maschine, die von Instinkten und äußeren Reizen gelenkt wird. Das Bereitschaftspotenzial macht demnach sichtbar, wie bei jeder Entscheidung von uns das allmächtige Unbewusste wirkt.
Spätere Messungen schienen das zu untermauern, denn sie ergaben sogar: Erst rund eine Sekunde nach dem Beginn des Bereitschaftspotenzials wird Probanden bewusst, dass sie gleich ihren Finger bewegen (wollen). Diese zeitliche Verzögerung wurde von einigen Hirnforschern als Beweis gewertet, dass der freie Wille nur eine tröstliche Fantasie sei; in Wahrheit würden wir fremdgesteuert durch unbewusste Vorgänge. Der Neurobiologe Gerhard Roth formulierte es so: „Nicht das Ich, sondern das Gehirn entscheidet.“
Ausgerechnet den Mit-Entdecker des Bereitschaftspotenzials aber macht diese Interpretation wütend, das würden seine Messungen überhaupt nicht hergeben. „Die Debatte ist völlig entgleist“, sagt Deecke. „Natürlich haben wir einen freien Willen.“ Genau das, ist er überzeugt, könne der ungewöhnliche Versuch auf der Alpenbrücke anschaulich zeigen.
Der erste Freiwillige macht sich bereit – ein athletischer Mann von 19 Jahren, dessen Hobby das Klippenspringen ist, bei dem er aus über 20 Metern Höhe von Felsen aus in natürliche Felsbecken eintaucht. Geld erhält er für seine wissenschaftliche Heldentat nicht. Aber das ist ihm egal. Er ist neugierig, was in seinem Kopf abläuft bei einen Sprung.
„Du darfst nicht blinzeln oder mit den Zähnen knirschen, das verfälscht die Messungen“, sagt Surjo Soekadar. Der jugendlich wirkender Hirnforscher von vierzig Jahren leitet die Arbeitsgruppe Angewandte Neurotechnologie am Universitätsklinikum Tübingen. Er stülpt dem Bungeejumper eine weiße EEG-Kappe über, aus der ein Strauß bunter Kabel herausquillt.
Jeder Gedanke, jeder Traum, geht mit einem elektrischen Potenzial im Gehirn einher. Doch die messbare Spannung ist extrem schwach, weniger als 20 Mikrovolt an der Kopfhaut. Schon Kauen übertönt das Rauschen der Gedanken.
Soekadar setzt sich wieder vor sein Notebook. Ein Sender am Hinterkopf des Springers überträgt die Messungen per Bluetooth. Der Proband tritt an den Rand der Plattform. Nur wenige Meter über ihm rumpeln Lastwagen Richtung Italien.
Plötzlich schnellt die EEG-Kurve auf dem Bildschirm nach oben. „Jetzt!“, flüstert Deecke. Und siehe da: Einen Wimpernschlag später kippt der Springer wie in Zeitlupe vornüber dem Abgrund entgegen und stürzt in die Tiefe.
„Eine wunderschöne Kurve“, schwärmt Deecke: „Ich hätte mir früher nicht träumen lassen, dass eine solche Messung einmal außerhalb des Labors möglich sein könnte.“
Als Deecke einst mit seinen Experimenten begann, mussten seine Probanden noch stundenlang in einem Metallkäfig sitzen, der die Sensoren vor der Störung durch Stromleitungen im Labor schützen sollte. Sie nannten diesen Faraday-Käfig scherzhaft „Hühnerstall“.
Die Testpersonen mussten nichts weiter tun, als hin und wieder ihren Zeigefinger zu krümmen – größere Bewegungen hätten die Messungen gestört. Und weil die Forscher so hart an der Nachweisgrenze operierten, mussten die Versuche hundertfach wiederholt werden. Insbesondere eine Studentin mit Namen Gertraud Flinspach war mit eiserner Disziplin dabei, sogar an ihrem eigenen Geburtstag. Später heiratete Deecke seine Probandin, heute leben sie gemeinsam in Wien und sind mehrfache Großeltern.
Auch die Sprünge von der Europabrücke müssen mindestens zehnmal wiederholt werden, um eine möglichst hohe Genauigkeit zu erzielen. Eine Seilwinde kurbelt den Springer immer wieder empor, kurzer Technikcheck, ein Schluck Wasser, dann steht er erneut an der Kante zum Nichts. Auf dem Bildschirm zuckt die Kurve empor, schon kippt er, fällt, rast dem Erdboden entgegen. Der Rechner speichert die Elektronenspur seiner inneren Kämpfe. Sauber schmiegen sich die Kurven übereinander.
Deecke nennt die Aktion „Sprung in die Freiheit“. Aufgekratzt tigert er über die Plattform, filmt Szenen, und schickt sie dann per WhatsApp an seine Frau. Ihm geht es wie dem sprichwörtlichen Zauberlehrling, der die Abschaffung des freien Willens stoppen will, die er selber mit seiner Pionierarbeit ungewollt ins Rollen gebracht hat. Und so steht er nun hier am Abgrund, um zu zeigen, dass seine damaligen Beobachtungen nicht dazu taugen, den freien Willen zu widerlegen – im Gegenteil: „Mein Gehirn kann nicht gegen mich sein. Mein Gehirn – das bin doch auch ich!“
Einfach gesagt, geht seine Argumentation so: Wenn das Bereitschaftspotential wirklich ein Effekt des Unbewussten wäre, dann müsste es vor einem Bungeesprung deutlich schwächer ausfallen als beim Fingerkrümmen im Labor. Denn instinktiv wehrt sich alles in einem Menschen, in die Tiefe zu springen.
Selbst erfahrene Springer haben ein flaues Gefühl im Magen, wenn sie an der Kante zum Nichts stehen, sie haben „einen Kloß im Hals“, manche zittern, der Puls rast. Ihr Inneres wehrt sich gegen den Sprung, das wird durch die Körpersignale überdeutlich.
„Ich habe hier schon Kunden weinen gesehen“, sagt Rupert Hirner, der Chef des Bungee-Unternehmens, das den Versuch begleitet. Der frühere Skispringer ist ein väterlicher Meister des guten Zuredens.
Hirner ist schon hunderte Male selbst gesprungen. „Aber ich habe immer noch Respekt“, sagt er. Fast jeder Kunde, der so dicht vor dem Abgrund steht, spüre Kribbeln in der Magengegend und bekomme feuchte Fingerspitzen.
„Die Angst vor dem Abgrund ist ein Überlebensinstinkt, das ist angeboren, schon Babys vermeiden eine Tischkante“, sagt Hirnforscher Deecke. „Diese Instinkte sind im Stammhirn fest verankert.“
Die Angst, diejeder Springer überwinden muss, ist die wertvollste Zutat bei dem heutigen Experiment. Denn bei allen früheren Versuchen zum freien Willen ging es um nichts. Was spielt es schon für eine Rolle, ob ich den Finger krümme? Doch über dem Abgrund geht es um Leben und Tod – zumindest fühlt es sich für den Bungeespringer so an.
„Wenn wir an der Kante stehen, melden sich Überlebenstriebe im Stammhirn“, sagt Deecke: „Die höheren Funktionen im Frontalhirn müssen versuchen, dieses Überlebensprogramm zu überstimmen.“
Der freie Wille ist auch für Deecke keine übermächtige Instanz, er kann nicht einfach so das Hungergefühl ausschalten oder eine Drogensucht. Aber das Frontalhirn lasse sich trainieren, fast wie ein Muskel, sagt der Forscher, um dann in Extremsituationen die Kontrolle zu übernehmen.
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