Some sites, museums, locations, hotels, monuments in Washington, at the John F. Kennedy Space Center, in Titusville, at Cocoa Beach etc.
Archiv der Kategorie: Uncategorized
Berliner Hütte, Tyrol, Austria: There is no bad weather. Ever.
Floating parade floats are the new demonstration marches at #csdberlin
Hansel Mieth goes #Metoo – eine unbekannte Berühmtheit
Erst jetzt komme ich zum Lesen der neuen Buchausgabe des Hansel-Mieth-Preises. Glückwunsch an die Gewinner, an die Jury, an die Gestalter, an die ganze Unternehmung. Auf der Website des HMP gibt es dazu die Details.
Wer aber war Hansel Mieth, die Frau mit dem komischen Männernamen? Diese PBS-Dokumentation erzählt die unglaubliche Odyssee der kleinen Johanna aus Oppelsbohm in Baden-Württemberg, die wenige Jahre später die zweite fest angestellte Fotoreporterin der legendären Zeitschrift „LIFE“ wurde, nach Margaret Bourke-White.
Und das kam so. Man müsste eigentlich eine Graphic Novel dazu machen. Über den Teenager Johanna, dem vom Lehrer eingebimst wird, dass sie als Mädchen minderwertig sei, die mit 15 Jahren gemeinsam mit ihrer Jugendliebe durchbrennt, sich mit dem Jungennamen „Hansel“ tarnt, durch Europa vagabundiert, dann 1930 in die USA emigiert, dort als Baumwollpflückerin arbeitet, dann mit dem Fotografieren beginnt im Umfeld von Streiks und Gewerkschaftstreffen, rasch aufsteigt in die High Society von New York, von „LIFE“, damals dem Goldstandard der Reportagefotografie, fest angestellt wird, sich zu langweilen beginnt, wieder nach Kalifornien zurückgeht, nach dem Angriff von Pearl Harbor die verfassungswidrige Internierung amerikanischer Bürger aufgrund ihrer Herkunft und ihres Aussehens als „Japaner“ in Zwangslagern unter Präsident Franklin Delano Roosevelt, ihren eigenen Heimatort nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wobei viele ihrer ehemaligen Ortsnachbarn nur eines bereuen: dass Deutschland nicht gesiegt hat.
Doch Mitgefühl und soziales Engagement sind gefährlich, bald gerät Hansel Mieth in die Mühlen des reaktionären, zutiefst unamerikanischen, verfassungsfeindlichen „House Unamerican Activities Committee“ (HUAC). Hansel Mieth kommt auf die „Black List“ – was einem Berufsverbot gleichkommt, aus parteitaktisch motivierten Gesinnungsgründen, und das im Land der verbrieften Meinungsfreiheit. So eine politische Phase kann schon einmal vorkommen von Zeit zu Zeit, wenn Ressentiments überhandnehmen, und Paranoia und Populismus rationale politische Strategien ersetzen. Hansel Mieth kennt das ja schließlich aus ihrer Heimat. Also arbeitet sie fortan eben wieder mit ihrem Mann Otto auf ihrer Farm in Kalifornien, sie züchten Hühner. Gegen ihre Freunde in der Gewerkschaftsbewegung sagt sie nie aus vor der unseligen Inquisition des HUAC.
Was all das mit #metoo zu tun hat? Nun, Hansel Mieth war immer wieder diversen sexistischen Zumutungen ausgesetzt. Als sie irgendwann in den Vierzigern in New York bei einer „Stag Night“ von einem Fremden begrapscht wurde, schlug sie ihm die schwere Kamera über den Kopf. „Ich habe gerade einen Mann umgebracht“, beichtete sie in der Redaktion. Wieso hast du ihn umgebracht? „Because he pested me!“. Entwarnung und Spoiler Alert: Der Grapscher überlebte laut Überlieferung.
Ich kannte das Werk ihrer Freunde wie Dorothea Lange, Margaret Bourke-White oder Ansel Adams (auch dessen Dokumentation des Internierungslagers „Manzanar“), aber das Werk von Hansel Mieth? War mir neu.
Danke, PBS, für diese Dokumentation auf Vimeo.**
Hier noch ein paar Screenshots, um Appetit zu machen.
** Ein paar Fragen allerdings lässt die Dokumentation offen: Wie kamen die beiden jungen Vagabunden überhaupt an eine Kamera, woher hatte Hansel Mieth das Geld für ihr Auto, als sie von New York nach San Francisco fuhr direkt nach der Ankunft? Wer brachte ihnen das Fotografieren bei, wer die Dunkelkammertechnik?
Wer hat Buch- oder Artikelempfehlungen zum Thema? Oder wie wäre vielleicht ein interaktives Multimediaprojekt im Jahr 20 des HMP? Vielleicht mit einer Kickstarter-Finanzierung?
Hightechmärchen – revisited (und republiziert)
MEDIENMAGAZIN VOM 16.04.2017
„Es wird einmal, in nicht allzu langer Zeit“ – so beginnen Hightechmärchen
… und sie werden uns schon seit Jahrzehnten erzählt von der Besiedlung des Mondes über Roboter, die uns den Alltag erleichtern bis hin zum Digitalradio. Diese Märchen begegnen uns im Medienbereich im Rhythmus der Medienmessen und -kongresse bis heute. Manches bleibt ein Hightechmärchen, anderes dauert nur länger. Vor 15 Jahren las der Wissenschafts- und Computerjournalist des SPIEGEL, Hilmar Schmundt im Medienmagazin aus seinem Buch “Hightechmärchen” vor und machte den Realitätscheck auf der CeBIT 2002. In diesem Medienmagazin des Jahres 2017 gibt es den Realitätscheck des Realitätschecks. Welche Kritik an den Märchenonkels von damals mit ihrem Cyber-Blabla war berechtigt und wie können wir in der Gegenwart besser aus der Vergangenheit lernen für eine realistische Hochrechnung der Zukunft?
Gespräch mit Hilmar Schmundt (Foto) und O-Tönen aus dem Jahr 2002
Hier geht es zum Podcast auf Soundcloud: https://soundcloud.com/schmundt/r1mm-16042017
Man kann auch in die Höhe fallen
Michael Rutschky, 1943-2018
Niemand kriegt, was er sich wirklich wünscht. Deshalb machen wir ja weiter. Wenn man nur ein einziges Mal bekäme, was man sich wirklich wünscht, man würde auf der Stelle mit dem Leben aufhören.
So muss man fortfahren, sich etwas zu wünschen, das nicht da ist, Jedermann braucht seinen höchstpersönlichen Roman, wie das Leben auszusehen hätte.
Michael Rutschky, Lebensromane
Hier ein Hypertextprojekt, das Michael Rutschky 1999 entwickelt hat für das Hypertext-Festival „Die Softmoderne“. Die Idee: Man stelle sich ein Fotoprojekt ein bisschen wie einen Zauberwürfel vor. Der „Berlinroman“ von R. stellt dabei nur eine Seite des Würfels dar – bietet aber eine fast Unendliche Zahl von Anknüpfungspunkten zu weiteren Projekten auf anderen Würfelseiten von anderen Autoren, die noch gar nicht wissen, dass sie später einmal teilnehmen werden. Kein in sich geschlossenes Überwältigungsprojekt, im Gegenteil. Eine bewusst unfertige, offene, zukunftshungrige Skizze. Das Vernetzungs-Projekt eines Authors‘ author. Typisch Rutschky.
Ich dachte, der Berlinroman sei verschollen. Heute sehe ich: Die wunderbare Wayback Machine des Internet Archive“ hat anscheinend eine (leider unvollständige) Kopie gespeichert. Das Vergangene ist nicht vergangen – es ist nur ungleich verteilt.
Einem Team aus Hirnforschern und Klippenspringern gelingt der erste Bungeesprung mit gleichzeitiger EEG-Messung
Wie Bungeespringer die Angst besiegen
(Aus dem SPIEGEL 5/2018)
Ein eisiger Wind weht herauf an diesem Morgen. Fast 200 Meter hoch ist die Europabrücke am Brennerpass. Wie eine Modelleisenbahnlandschaft sehen die Häuser, Wiesen und Wälder von hier aus.
Gleich soll sich ein Freiwilliger in die Tiefe stürzen – im Dienste der Wissenschaft. Hirnforscher haben sich auf einer schwankenden Reparaturplattform verschanzt und schauen auf ihre Monitore. Die Wissenschaftler wollen live verfolgen, was im Kopf eines verkabelten Bungeespringers vor sich geht.
„Wir machen ein Experiment, an das sich noch niemand vor uns gewagt hat“, sagt Lüder Deecke, ein distinguierter Herr mit wehender weißer Haartolle: „Wir wollen der Frage nach dem freien Willen nachgehen, und zwar nicht im Labor, sondern erstmals draußen unter extremen Bedingungen.“
Eigentlich ist Lüder Deecke zu alt für solche Abenteuer. Der emeritierte Professor für Neurologie wird in diesem Sommer 80 Jahre alt. Er muss sich auch nichts mehr beweisen, nach über 600 Fachpublikationen, mehreren Büchern und Auszeichnungen. Sein Ruhm gründet sich auf einem Experiment, mit dem er bereits 1964 als Student ein bis dahin unbekanntes Hirnphänomen entdeckte: das sogenannte Bereitschaftspotenzial.
Gemeinsam mit seinem Doktorvater Hans Helmut Kornhuber fand er an der Uni Freiburg heraus: Wenn wir eine willkürliche Bewegung machen, geht dieser rund anderthalb Sekunden vorher ein elektrisches Potenzial im Hirn voraus. Die Forscher hatten Versuchspersonen Elektrodenkappen aufgesetzt. Anhand der gemessenen Hirnströme (EEG) konnten sie mit hoher Wahrscheinlichkeit „voraussagen“, dass ein Proband gleich die Hand heben würde – was dann tatsächlich geschah.
Doch was bedeutet diese wissenschaftlich fundierte Hellseherei? Deecke trat mit seiner Entdeckung eine erbitterte Kontroverse los, die auch heute, ein halbes Jahrhundert später, noch nicht beendet ist. Macht unser Gehirn wirklich mit uns, was es will? Ist der freie Wille eine Illusion?
Nach dieser Deutung wäre der Mensch nur eine bessere Maschine, die von Instinkten und äußeren Reizen gelenkt wird. Das Bereitschaftspotenzial macht demnach sichtbar, wie bei jeder Entscheidung von uns das allmächtige Unbewusste wirkt.
Spätere Messungen schienen das zu untermauern, denn sie ergaben sogar: Erst rund eine Sekunde nach dem Beginn des Bereitschaftspotenzials wird Probanden bewusst, dass sie gleich ihren Finger bewegen (wollen). Diese zeitliche Verzögerung wurde von einigen Hirnforschern als Beweis gewertet, dass der freie Wille nur eine tröstliche Fantasie sei; in Wahrheit würden wir fremdgesteuert durch unbewusste Vorgänge. Der Neurobiologe Gerhard Roth formulierte es so: „Nicht das Ich, sondern das Gehirn entscheidet.“
Ausgerechnet den Mit-Entdecker des Bereitschaftspotenzials aber macht diese Interpretation wütend, das würden seine Messungen überhaupt nicht hergeben. „Die Debatte ist völlig entgleist“, sagt Deecke. „Natürlich haben wir einen freien Willen.“ Genau das, ist er überzeugt, könne der ungewöhnliche Versuch auf der Alpenbrücke anschaulich zeigen.
Der erste Freiwillige macht sich bereit – ein athletischer Mann von 19 Jahren, dessen Hobby das Klippenspringen ist, bei dem er aus über 20 Metern Höhe von Felsen aus in natürliche Felsbecken eintaucht. Geld erhält er für seine wissenschaftliche Heldentat nicht. Aber das ist ihm egal. Er ist neugierig, was in seinem Kopf abläuft bei einen Sprung.
„Du darfst nicht blinzeln oder mit den Zähnen knirschen, das verfälscht die Messungen“, sagt Surjo Soekadar. Der jugendlich wirkender Hirnforscher von vierzig Jahren leitet die Arbeitsgruppe Angewandte Neurotechnologie am Universitätsklinikum Tübingen. Er stülpt dem Bungeejumper eine weiße EEG-Kappe über, aus der ein Strauß bunter Kabel herausquillt.
Jeder Gedanke, jeder Traum, geht mit einem elektrischen Potenzial im Gehirn einher. Doch die messbare Spannung ist extrem schwach, weniger als 20 Mikrovolt an der Kopfhaut. Schon Kauen übertönt das Rauschen der Gedanken.
Soekadar setzt sich wieder vor sein Notebook. Ein Sender am Hinterkopf des Springers überträgt die Messungen per Bluetooth. Der Proband tritt an den Rand der Plattform. Nur wenige Meter über ihm rumpeln Lastwagen Richtung Italien.
Plötzlich schnellt die EEG-Kurve auf dem Bildschirm nach oben. „Jetzt!“, flüstert Deecke. Und siehe da: Einen Wimpernschlag später kippt der Springer wie in Zeitlupe vornüber dem Abgrund entgegen und stürzt in die Tiefe.
„Eine wunderschöne Kurve“, schwärmt Deecke: „Ich hätte mir früher nicht träumen lassen, dass eine solche Messung einmal außerhalb des Labors möglich sein könnte.“
Als Deecke einst mit seinen Experimenten begann, mussten seine Probanden noch stundenlang in einem Metallkäfig sitzen, der die Sensoren vor der Störung durch Stromleitungen im Labor schützen sollte. Sie nannten diesen Faraday-Käfig scherzhaft „Hühnerstall“.
Die Testpersonen mussten nichts weiter tun, als hin und wieder ihren Zeigefinger zu krümmen – größere Bewegungen hätten die Messungen gestört. Und weil die Forscher so hart an der Nachweisgrenze operierten, mussten die Versuche hundertfach wiederholt werden. Insbesondere eine Studentin mit Namen Gertraud Flinspach war mit eiserner Disziplin dabei, sogar an ihrem eigenen Geburtstag. Später heiratete Deecke seine Probandin, heute leben sie gemeinsam in Wien und sind mehrfache Großeltern.
Auch die Sprünge von der Europabrücke müssen mindestens zehnmal wiederholt werden, um eine möglichst hohe Genauigkeit zu erzielen. Eine Seilwinde kurbelt den Springer immer wieder empor, kurzer Technikcheck, ein Schluck Wasser, dann steht er erneut an der Kante zum Nichts. Auf dem Bildschirm zuckt die Kurve empor, schon kippt er, fällt, rast dem Erdboden entgegen. Der Rechner speichert die Elektronenspur seiner inneren Kämpfe. Sauber schmiegen sich die Kurven übereinander.
Deecke nennt die Aktion „Sprung in die Freiheit“. Aufgekratzt tigert er über die Plattform, filmt Szenen, und schickt sie dann per WhatsApp an seine Frau. Ihm geht es wie dem sprichwörtlichen Zauberlehrling, der die Abschaffung des freien Willens stoppen will, die er selber mit seiner Pionierarbeit ungewollt ins Rollen gebracht hat. Und so steht er nun hier am Abgrund, um zu zeigen, dass seine damaligen Beobachtungen nicht dazu taugen, den freien Willen zu widerlegen – im Gegenteil: „Mein Gehirn kann nicht gegen mich sein. Mein Gehirn – das bin doch auch ich!“
Einfach gesagt, geht seine Argumentation so: Wenn das Bereitschaftspotential wirklich ein Effekt des Unbewussten wäre, dann müsste es vor einem Bungeesprung deutlich schwächer ausfallen als beim Fingerkrümmen im Labor. Denn instinktiv wehrt sich alles in einem Menschen, in die Tiefe zu springen.
Selbst erfahrene Springer haben ein flaues Gefühl im Magen, wenn sie an der Kante zum Nichts stehen, sie haben „einen Kloß im Hals“, manche zittern, der Puls rast. Ihr Inneres wehrt sich gegen den Sprung, das wird durch die Körpersignale überdeutlich.
„Ich habe hier schon Kunden weinen gesehen“, sagt Rupert Hirner, der Chef des Bungee-Unternehmens, das den Versuch begleitet. Der frühere Skispringer ist ein väterlicher Meister des guten Zuredens.
Hirner ist schon hunderte Male selbst gesprungen. „Aber ich habe immer noch Respekt“, sagt er. Fast jeder Kunde, der so dicht vor dem Abgrund steht, spüre Kribbeln in der Magengegend und bekomme feuchte Fingerspitzen.
„Die Angst vor dem Abgrund ist ein Überlebensinstinkt, das ist angeboren, schon Babys vermeiden eine Tischkante“, sagt Hirnforscher Deecke. „Diese Instinkte sind im Stammhirn fest verankert.“
Die Angst, die jeder Springer überwinden muss, ist die wertvollste Zutat bei dem heutigen Experiment. Denn bei allen früheren Versuchen zum freien Willen ging es um nichts. Was spielt es schon für eine Rolle, ob ich den Finger krümme? Doch über dem Abgrund geht es um Leben und Tod – zumindest fühlt es sich für den Bungeespringer so an.
„Wenn wir an der Kante stehen, melden sich Überlebenstriebe im Stammhirn“, sagt Deecke: „Die höheren Funktionen im Frontalhirn müssen versuchen, dieses Überlebensprogramm zu überstimmen.“
Der freie Wille ist auch für Deecke keine übermächtige Instanz, er kann nicht einfach so das Hungergefühl ausschalten oder eine Drogensucht. Aber das Frontalhirn lasse sich trainieren, fast wie ein Muskel, sagt der Forscher, um dann in Extremsituationen die Kontrolle zu übernehmen.
(….)
Den ganzen Artikel lesen Sie hier (Paywall): http://www.spiegel.de/spiegel/hirnforscher-messen-wie-bungeespringer-ihre-angst-ueberwinden-a-1190399.html
Der E-Book-Umsatz bricht um 1,4% ein. Wenden sich Leser vom elektronischen Lesen ab?
Der E-Book-Umsatz schrumpft um 1,4 %, meldet der Börsenverein des Deutschen Buchhandels:
Was steckt dahinter? Digitalmüdigkeit? Liebe zur Papier-Haptik?
Wahrscheinlich wohl noch am ehesten eine fragwürdige Metrik. Wer Wattpad, Fan-Fiction-Portale, Flatrate-Lesen, Onleihe und andere aktuelle Lesetrends überhaupt nicht berücksichtigt in der Erhebnung, riskiert, einfach nur verwirrenden Datenmüll zu produzieren. Erfreulich wäre eine systematische akademische Bestandsaufnahme von Lesemarkt und Leseverhalten jenseits der unterkomplexen Bipolarität von Papierbuch zu E-Buch. Hier mein Aufruf, aussagekräftigere Metriken zu entwickeln:
http://www.spiegel.de/spiegel/die-zukunft-des-lesens-ist-digital-a-1175657.html
Der Fehler-Engel
So kann (fast) jeder (fast) alles erlernen: Der amerikanische Physiknobelpreisträger Carl Wieman feiert große Erfolge mit einer Ausbildungsmethode, die auf „Active Learning“ setzt.
(Auszug aus der SPIEGEL-Ausgabe 7/2918 vom 10. Februar)
Ein sonniger Dienstagmorgen auf dem weitläufigen Campus der kalifornischen Stanford University bei San Francisco. Entspanntes Büffeln unter Palmen. Nur in einem Seminarraum im Untergeschoss geht es hoch her: Zwölf Studenten palavern in kleinen Grüppchen, streiten und lachen miteinander.
Willkommen im Seminar des Physiknobelpreisträgers Carl Wieman! Mit einer ungewöhnlichen Methode bringt er heute zwölf Studenten aus Fachbereichen wie Geologie, Mathe und Medizin bei, wie sie Studenten später besser unterrichten können.
„Viele glauben, sie seien für Naturwissenschaften einfach nicht begabt“, sagt Wieman, ein zupackender Lehrmeister mit Wanderstiefeln, kurzärmligem Hemd und einer Uralt-Quarzuhr am Handgelenk: „Doch das ist Quatsch. Mit dem richtigen Unterricht kann jeder in jedem Fach riesige Fortschritte machen.“
Niemand werde als Genie geboren, ist Wieman überzeugt – nicht einmal ein Wolfgang Amadeus Mozart. Genial sei vor allem sein Vater Leopold gewesen, ein mittelmäßiger Geiger, aber ausgebuffter Musikpädagoge, der eines der ersten Bücher zur Musikerziehung für die Violine schrieb. Er ließ Wolferl schon komponieren, als dieser ein kleiner Junge war – und schaute ihm permanent über die Schulter, um jeden kleinsten Fehler zu verbessern. Voilà.
„Aktives Lernen“ heißt diese Methode heute: Studenten machen lassen, korrigieren, weitermachen lassen, wieder korrigieren, eine Art Autodidaktentum, aber unter Anleitung eines Mentors – quasi nach dem Vorbild von Papa Mozart.
BESSER LERNEN
In der Tat zeigen aktuelle Studien, dass (fast) jeder (fast) alles lernen kann. So besagte eine Lehrmeinung früher, dass das absolute Gehör eine angeborene Sonderbegabung sei. Nur einer von 1000 Menschen verfügt über die Fähigkeit, die Höhe eines gehörten Tons exakt zu bestimmen.
Doch im Jahr 2014 zeigte eine japanische Wissenschaftlerin mit einem Experiment, dass auch alle anderen das absolute Gehör erlernen können. Sie rekrutierte 24 normale Kinder, zwischen zwei und sechs Jahren alt. Dann trainierten Musiklehrer mit ihnen, Tonhöhen zu erkennen, pro Tag ein paar Minuten. Manche Kinder brauchten nur wenige Monate, andere über ein Jahr. Am Ende aber hatten alle, die das Programm durchzogen, das Absolute Gehör.
Derlei faszinierende Geschichten gibt es inzwischen zuhauf. Der Entwicklungspsychologe Anders Ericsson von der Florida State University sorgte beispielsweise für Aufsehen, als er ebenfalls mit einem Experiment den Kult um angeblich begnadete Gedächtniskünstler entzauberte. Die meisten Menschen können sich in ihrem Kurzzeitgedächtnis nur rund sieben beliebige Zahlen merken, die ihnen vorgelesen wurden. Ericsson dagegen brachte einem Studenten durch intensives Training bei, sich bis zu 82 beliebige Zahlen zu merken.
Wichtig bei der Methode des aktiven Lernens ist der richtige Umgang mit Fehlern oder falschen Vorstellungen. „Viele Menschen glauben, dass Sommer und Winter dadurch entstehen, dass die Erde mal näher an der Sonne ist und mal weiter weg“, berichtet ein Geologiestudent beim heutigen Seminar.
Wieman ist begeistert, er liebt solche Irrtümer. Er ist überzeugt, dass Fehler wertvoll sind – je abwegiger, desto besser. Denn er sieht Fehler nicht als Niederlage, sondern als Chance, daran zu wachsen.
Bei ihm im Seminar muss jeder Student ständig für sich allein neue Aufgaben bearbeiten. Die Lösungen werden dann gemeinsam im Kreis mit allen anderen Studenten diskutiert – angeleitet von Wieman, der als oberster Fehlersucher und Korrektor fungiert. Selbst Unsinn feiert er noch als Erfolg. Bei ihm wird der Fehlerteufel zum Fehlerengel.
Den größten Fehler hat er indes in den Köpfen der Professoren ausgemacht – weil sie an einer so rückständigen Lehrmethode wie der Vorlesung festhalten.
Er verweist auf eine aktuelle Vergleichsstudie unter Leitung des amerikanischen Bildungsforschers Scott Freeman. Demnach schneiden durchschnittliche Studenten, die bislang einer Vorlesung gelauscht haben, durch aktives Lernen besser ab als 68 Prozent ihrer Kommilitonen. Außerdem sinkt die Durchfallquote um rund ein Drittel (siehe Grafik).
„Handelte es sich um eine medizinische Studie, müsste man traditionelle Vorlesungen sofort abbrechen, weil es nicht zu verantworten wäre, Patienten einer solch untauglichen Therapie auszusetzen“, schimpft Wieman. „Die Vorlesung ist eine jahrhundertealte Tradition aus dem Mittelalter – aber damals galten teils auch Aderlass und Zaubersprüche als Allheilmittel. Beides hat sich als weitgehend unwirksam erwiesen.“
Dass der berühmte Physiker so viel vom aktiv angeleiteten Lernen hält, kommt nicht von ungefähr. Schon als Kind war er ein eigenwilliger Selbermacher – notgedrungen. Wieman wuchs in den Wäldern Oregons auf. Sein Vater arbeitete in einem Sägewerk, einen Fernseher gab es nicht im Haus, so verschlang Carl stapelweise Bücher aus der Leihbibliothek.
Mit einem Bruder tüftelte er an komplizierten Spielzeugen. Als er in die 8. Klasse kam, zog die Familie um, er freundete sich mit dem Sohn eines Mathematikprofessors an, der mit den Kindern nachmittags auf spielerische Weise Geometrieprobleme löste. Außerdem lernte Carl Wieman Schach und wurde durch fortwährendes Üben so gut darin, dass er bald auf Turnieren antrat. „Aber im reifen Alter von 16 Jahren gab ich diese Karriere auf“, sagt er.
Schließlich schrieb er sich als Physikstudent am MIT bei Boston ein, doch seine wahre Leidenschaft blieben damals Tennis und Squash: „Ich habe gegen ein paar der besten Spieler des Landes verloren, sogar gegen einen späteren US-Meister.“
Die Vorlesungen in Optik oder Atomphysik dagegen schwänzte er oft. Lieber bildete er sich im Labor fort, durch Ausprobieren und Scheitern und Weitermachen. Mit dieser zupackenden Lerntechnik schaffte er es bis in den Olymp seines Fachs.
Im Jahr 1995 gelang es ihm mit seinem Team, eine 70 Jahre alte Vorhersage von Albert Einstein zu bestätigen: dass stark heruntergekühlte Materie eines bestimmten Typs in einen neuartigen Aggregatzustand übergeht, weder flüssig noch fest oder gasförmig – das legendäre Bose-Einstein-Kondensat.
Doch Wieman blieb hungrig und neugierig. Nach der Nobelpreisehrung stellte er seine Physikkarriere zurück und widmete sich fortan seinem Lebensthema: Lernen lernen. Mit seinem Nobelpreisgeld startete er eine Bildungsinitiative, baute die Curricula von 235 universitären Kursen um und ließ die Lernerfolge von unabhängigen Bildungsforschern testen.
Nebenher überprüfte er etliche weitere reformpädagogische Ideen, die als Erfolg versprechend galten: charismatische Professoren? Kommen bei Studenten gut an, sorgen für Unterhaltung – bringen aber wenig Lernerfolg. Kleinstgruppen? Kein messbarer Vorteil. Unterricht mit Smartboards und Handys? Digitalschnickschnack lenke eher ab, hat er herausgefunden: „Auch das Mitschreiben per Hand stört beim aktiven Mitdenken, das Mitschreiben am Notebook aber ist noch störender.“
Gut dagegen schneiden spielerische Techniken ab, etwa interaktive Abstimmungen („Clicker“ genannt), bei denen die Studenten einfache Ja-Nein-Fragen beantworten müssen, wie man es von Quizshows kennt. Die häufige Rückmeldung von Studenten erlaubt den Lehrenden, den Lernfortschritt besser einzuschätzen.
Am besten aber, so zeigte sich, sind die Ergebnisse beim aktiven Lernen. Die von Wieman propagierte Methode hat inzwischen auch deutsche Universitäten erreicht.
(…) Der Rest des Artikels in der aktuellen Ausgabe des SPIEGEL
Hier eine Antwort auf einen Leserbrief:
„…da ich selbst lange Zeit gelehrt habe, interessiert mich dieser Artikel über Carl Wiemann besonders. Meine Frage: gibt es von ihm oder anderen Autoren ein Buch über diese Methoden? Danke für ihre Mühe und schöne Grüsse aus Dortmund.“
Ja, es gibt eine Menge großartiger Bücher zum Thema. Hier eine kleine Auswahl:
„Peak“ von Anders Ericsson ist spannend. Sehr praktisch, sehr anwendbar:
https://www.amazon.com/Peak-Secrets-New-Science-Expertise/dp/1531864880
Auch „Talent is Overrated“ ist sehr lesenswert:
Ganz konkret um Unis geht es bei Cathy Davidson, sie ist ein Fan der Community Colleges. Gute historische Perspektive auf diverse historische Umbrüche und Innovationen, zum Beispiel dem Pivot der Harvard-Uni von Theologie zu Wissenschaft:
Und natürlich schreibt Carl Wieman selbst über seinen eigenen Ansatz und seine Projekte und Forschung: