Am eigenen Leib

Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben.

– Alexander von  Humboldt

Die Methode „Ausprobieren – Aufschreiben“ wird hierzulande unterschätzt. Zu Unrecht. Klar: Der Selbstversuch spielt oft ins Krawallige, Inszenierte und Selbstdarstellerische. Außerdem macht man sich dabei meist zum Horst. Aber in der Aufmerksamkeitsökonomie ist die Mischung aus investigativer Authentizität und  „Jackass“ unschlagbar. Vor allem ist das Jackass-Prinzip, richtig verstanden, eine altehrwürdige, traditionsreiche Methode der Aufklärung, um Neues zu erfahren (Siehe auch „Laborlandschaften“ von Philipp Felsch oder „Ärzte im Selbstversuch“ von Bernt Karger-Decker). John Tyndall etwa benutzte um 1860 herum seine Bergsteigerei am Matterhorn als Freiluft-Selbstversuch, zum evidenzbasierten Denken mit Kopf und Herz, Händen und Füßen. Er fand nicht nur heraus, wie Gletscher fließen und warum der Himmel blau ist, sondern auch, wie es ist, auf dem Gipfel zu stehen. Für ihn war es ein Antiklimax. Hätte er nicht erwartet. Konnte er nicht wissen. Ob sich ein Selbstversuch lohnt, weiß man immer erst danach. Die Quote liegt etwa bei gefühlten 50/50.

Schulausflug im Kotzbomber: Die europäische Raumfahrtagentur Esa brachte Studenten zum Schweben: An Bord eines Spezial-Airbus erlitten die Freiwilligen den Zustand der Schwerelosigkeit. Mit solchen abenteuerlichen Show-Flügen will die Esa ihr langweiliges Image loswerden.

Hier ein selbstgedrehtes Video dazu aus dem Jahr 2000, als die Videokameras noch dicke Ungetüme waren.

Wie ich letzten Dienstag in zwei Stunden meinen Klout-Faktor um 10 Punkte erhöhte. Eine Anleitung. Kurzes Facebook-Video.

Ertrinken am Gipfelkreuz: Hunderttausende Bergtouristen leiden unter Kopfweh und Übelkeit. Deshalb erproben Ärzte in der höchsten Hütte Europas Mittel gegen die Höhenkrankheit – darunter auch Potenzpillen.

Video: Taser im Selbstversuch und Besuch in der Firmenzentrale von Taser in Scottsdale, Arizona. Dazu ein Artikel.


 

Die Keks-Spione: Im Netz wird fast jeder Klick von Hunderten Werbefirmen heimlich ausgewertet. Die Nutzer sind dagegen oft machtlos, die Bundesregierung schützt die Schnüffler. Ein Selbstversuch.

Mit Gedanken spielen: DOESER SATZ IST MUT GEDANKEH GESCHRIEVEN. Ohne Tastatur, ohne Hände, ohne Augenzwinkern. Ich denke, also schreibe ich.

Eigentlich sollte der gesamte Artikel mit bloßer Gedankenkraft entstehen, aber die Verwandlung von Ideen in Zeichen ist zäh und fehlerhaft. Allein das erste Wort dauerte ein paar Minuten, und trotzdem kam nur dieses verhunzte „Doeser“ heraus.

 

 

Rauchen ohne Rauch: Nikotingenuss in Restaurants, sogar im Flugzeug und ganz ohne Belästigung der Mitmenschen – all das verspricht eine neue Erfindung aus China: die elektronische Zigarette. Doch wie ungefährlich ist das Dampfen von Nikotin wirklich? Gesundheitsexperten sind ratlos.
* * *

Grille statt Gulasch: Heuschrecken, Ameisen und Spinnen gelten als Delikatesse in Asien, Afrika und Südamerika. Ökologen wollen sie auch in europäische Küchen bringen – um die Natur zu schützen. (Hier ein selbstgedrehtes Video dazu.)

Nun gerät Seine Exzellenz ins Schwärmen: „Für uns als Kinder war es immer ein großes Fest, wenn die Ameisenköniginnen zur Regenzeit zum Hochzeitsflug ansetzten und wir sie eingefangen haben, mit bloßen Händen, mit Tüten und mit Hüten.“ Dann wurden die Ameisen in Salz eingelegt, gegrillt und wie Erdnüsse gegessen. „Immer wenn ich Dickpo-Ameisen esse, fühle ich mich wieder wie ein kleiner Junge.“ Atta laevigata ist der unangefochtene Favorit bei diesem Bankett, knackig im Biss, mit rauchiger Blume und nussigem Abgang.

Auch Sir David, der schmale Herr, der einst gemeinsam mit dem deutschen Nobelpreisträger Gerhard Ertl in Cambridge das Fach der Oberflächenchemie aufbaute, schwelgt beim Knuspern von Insekten in Erinnerungen: Als Schulkind in Südafrika habe er lebende Termiten gegessen, um die Mädchen in seiner Klasse zu beeindrucken. Heute lobt er die krabbelnden Köstlichkeiten, weil Insekten im Gegensatz zu Rindern kaum Treibhausgase in die Atmosphäre rülpsen.

Schon in der Bibel (3. Mose, Kapitel 11, Vers 22) wird der Verzehr von Heuschrecken empfohlen. Die antiken Gelehrten Plinius der Ältere und Herodot berichten davon, wie sich zerstampfte Grillen zu Fladen verarbeiten lassen. Ein römischer Feinschmecker fütterte Hirschkäfer liebevoll mit Wein und Kleie, bevor er sie röstete. Sein Name: Lucullus.

Star aus Stein: Großes Kino, schwülstige Oper, cooler Clip: Die Bergsteiger-Tragödie „Nordwand“ sollte das Meisterstück des Allround-Regisseurs Philipp Stölzl werden. Dafür stieg er sogar selbst auf den Eiger – und nahm SPIEGEL-Redakteur Hilmar Schmundt mit auf den Gipfel.

 

Professor Haartolles Wortgestöber: Mit Computern und 3-D-Kameras kartieren Hamburger Forscher ein kaum ergründetes Territorium: die deutsche Gebärdensprache. Bayern machen andere Gebärden als Berliner, Junge andere als Alte. Das weltweit einmalige Wörterbuch soll sich interaktiv mit Gesten durchsuchen lassen.

Selbermachen: iPad-Supplement zum Artikel über die Gebärdenspracherkennung mit dem Kinect-Sensor, mit interaktiven Elementen, die das System und die Gebärdensprache demonstrieren.

 


Aufbruch ins Outernet: Die neue, magisch anmutende Technik der „Augmented Reality“ verknüpft das Internet mit der realen Welt. Durch Einsatz moderner Smartphones erwachen tote Gegenstände zum Leben, Städte verwandeln sich in begehbare Datenbanken – zur Freude der Werbeindustrie. (Hier ein Video dazu.)

Jedes Objekt in der realen Welt kann durch AR mit einer eigenen Website erweitert werden, auf der Zusatzinformationen hinterlegt sind – ein Internet der Dinge. Sogar auf Herrentoiletten kleben mittlerweile Sticker mit nichts als einem sogenannten QR-Code, einer Art fraktalem Schachbrettmuster, das über die Handy-Kamera auf Werbe-Websites lockt. Der Bildcode wurde 1994 von einer Tochterfirma von Toyota entwickelt, um Bauteile zu verfolgen, und gilt als einer der wenigen offenen, lizenzfreien und zuverlässigen Standards im Bereich AR.

Die AR-Pioniere stellen ein großes Sendungsbewusstsein zur Schau; sie versprechen nichts Geringeres als die technische Verbesserung des Menschen, die Verfeinerung seiner Sinne, die Erweiterung seines Wissens. Voller Pathos formuliert es Hiroshi Ishii, Direktor am Media Lab des MIT bei Boston: „Am Strand zwischen dem Land der Atome und dem Meer der Bits stellt sich heute die Aufgabe, unsere doppelte Staatsbürgerschaft in der digitalen und der realen Welt miteinander zu versöhnen. Unser Ziel ist es, die Grenze zwischen Körper und Cyberspace zu verwischen.“ Kurzum: AR soll die Wirklichkeit wirklicher machen.

Anmerkung: Natürlich haben wir die AR-Technik selbst ausprobieren wollen. Also integrierten wir sie ins Heft. Eigentlich wollten wir die technisch aufgebrezelte 3D-Variante von Firmen wie Layar, Metaio, Wikitude, aber das war alles zu aufwendig (und noch ein paar Jahre zu früh vielleicht). Der „Stern“ setzte zunächst auf Metaio, entschied sich später aber um.

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